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alternovum Ausgabe 3/2019

50 Jahre Wohnstift - ein Blick auf das Alter

Festvortrag von Prof. Dr. Andreas Kruse. Ein Beitrag von Sieglinde Hankele.

München, 30. Oktober 2019

Mein Gott, Dir sag ich Dank,
Dass Du die Jugend mir bis über alle Wipfel
In Morgenrot getaucht und Klang,
Und auf des Lebens Gipfel,
Bevor der Tag geendet,
Vom Herzen unbewacht
Den falschen Glanz gewendet,
Dass ich nicht taumle ruhmgeblendet,
Da nun herein die Nacht
Dunkelt in ernster Pracht.

Mit diesem Gedicht von Josef Freiherr von Eichendorff eröffnete der Gerontologe Andreas Kruse seinen Festvortrag. In diesem Gedicht sei vieles ausgedrückt, womit man sich in der Altersforschung beschäftigt. Aus wissenschaftlichen Arbeiten, Gesprächen und Begegnungen mit alten Menschen wisse er, dass viele im Alter einen Lebensrückblick halten, dabei über ihre Jugend und "des Lebens Gipfel" nachdenken und es bewerten. Dabei könne man tiefe Erkenntnisse über sich selbst erlangen. Das sei wichtig und eine Grundlage für die Generationenbeziehung. Viele erkennen im Alter ihre Aufgabe, das historische und biografische Wissen sowie Erfahrungen und Erlebnisse an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben, insbesondere an die jungen Menschen. Als Beispiel nannte Andreas Kruse Holocaust-Überlebende, die in Schulen gehen und sagen: "Wir sind die letzten. Fragt uns aus."

Der Gerontologe berichtete von einer "Tagebuch-Methode" in der Altersforschung. Wenn man Jung und Alt zusammenbringt bei einem gemeinsamen Projekt und sie bittet, über einige Monate hinweg parallel dazu Tagebuch zu führen, zeige sich, wie befruchtend der intergenerationelle Austausch ist. Für alte Menschen ist es interessant zu erleben, wie junge Menschen ihre Identität aufbauen. Für die jungen Menschen ist es wertvoll zu sehen, wie die alten ihr Leben noch mal an sich vorbeiziehen lassen und sich mit ihrer Endlichkeit auseinandersetzen. Davon können junge Menschen viel lernen. Umgekehrt ist der Austausch für die ältere Generation wichtig, um etwas über sich selbst zu erfahren, was vielleicht verschattet war. Der Blick in die Jugend sei ein Blick in eine Zeit der unendlichen Leichtigkeit des Seins. Zu diesem Austausch der Generationen passe auch ein Gedicht von Paul Celan:

Ich lotse dich hinter die Welt,
da bist du bei dir, unbeirrbar, 
heiter
vermessen die Stare den Tod,
das Schilf winkt dem Stein ab,
du hast
alles 
für heut Abend.

"Hinter die Welt" ist für Andreas Kruse ein Verweis auf das Unbewusste. Es gebe nicht nur ein Bewusstsein, das wir kontrollieren können, so Kruse, sondern auch eine geistige und psychische Realität, ein Geist, der uns umgibt. Er kenne kaum einen Menschen, der im Alter keine kosmische Orientierung habe. Für den einen sei sie religiös, für den anderen spirituell, für den nächsten metaphysisch. Das Geistige mache das Wesen des Menschen aus. "Der Mond ist aufgegangen" von Matthias Claudius und "Mondnacht" von Josef Freiherr von Eichendorff seien weitere Beispiele für die kosmische Orientierung von uns Menschen. Kruse rezitierte:

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt'.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Die kosmische Orientierung von uns Menschen gehe weit über die individuelle Existenz und die materielle Welt hinaus, auch in palliativen Situationen, bei demenziellen Erkrankungen, depressiven Erkrankungen und Gebrechen. Die Frage nach der Existenz nach dem Tod bewege die meisten alten Menschen. Der Geist habe nur bedingt etwas mit dem Intellektuellen zu tun, er beseele den Körper. Die Frage, ob es sein kann, dass der körperliche Alterungsprozess divergiere zur Entwicklung des Geistes im Alter, habe er ohne zu zögern bejaht. Der Geist könne sich im Alter noch weiterentwickeln, während der Körper schwächer und verletzlich wird. Auch in der Demenz gebe es das seelisch Geistige. Die Benennung der Erkrankung (dementia = "ohne Geist") müsse möglicherweise geändert werden. Beim Geistigen gehe es nicht um Denken und Problemlösen. Das Alter und Demenz müssen vor diesem Hintergrund ganz neu bewertet werden. 

Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen zitierte Kruse die erste Strophe eines Gedichts von Simon Dach, in dem es um Beziehungen geht:

Der Mensch hat nichts so eigen
so wohl steht ihm nichts an
als daß Treu er zeigen
und Freundschaft halten kann
Wenn er mit seinesgleichen
will treten in ein Band,
verspricht sich nicht zu weichen
mit Herzen, Mund und Hand

Die höchste Form der Vita aktiva ist – nach Hannah Arendt – der Austausch der Menschen in Wort und Tat, im öffentlichen Leben, "auf der Bühne der Welt". Da zeige man sich in der Einzigartigkeit des Seins. Das Wohnstift sei ein wunderbares Modell für Kommunikation und Begegnungen und das Spüren des Geistes. Da lebe es sich gut. Genauso wichtig wie die Auseinandersetzung mit uns selbst in der Einsamkeit ist laut Andreas Kruse der Austausch mit anderen. Nur im Wechsel zwischen Privatheit und öffentlichem Raum könne das Leben gelingen. Der Aspekt der Autonomie sei wichtig. Doch die Bezogenheit genauso. Einsamkeit sei ein großer Risikofaktor für die körperliche Gesundheit von Menschen. Aus der Epidemiologie wisse man, dass Einsamkeit die Sterblichkeit erhöht. Die Gewissheit mit anderen zusammen zu sein und Nachbarschaft zu haben, könne gar nicht hoch genug bewertet werden.

Ungemein beeindruckt habe ihn der Neurologe Viktor Frankl. Dieser verwies darauf, dass es wichtig ist, dass der Mensch sein Leben in den Dienst eines anderen Lebens oder einer Sache stellt. Oder in den Dienst einer Idee. Oder in den Dienst der Natur. Oder in den Dienst der Demokratie. Den Sinn des Lebens könne man nicht suchen, sondern finden, indem man sich hingibt und etwas tut, Verantwortung übernimmt. 

Ein erst vor wenigen Tagen gewonnener empirischer Befund – auf Grundlage der Auswertung von statistischen Daten zum Altersbereich 75 bis 95 – war die Basis von Kruses weiteren Ausführungen. Für viele im hohen Alter sei Schmerz ein bedeutsames Thema. Der Zusammenhang zwischen der Stärke der Schmerzen und depressiven Verstimmungen war jedoch nicht nachweisbar. Das brachte die Wissenschaftler auf den Gedanken, auch die anderen abgefragten Merkmale zu betrachten. Dabei zeigte sich: Wer keine Aufgabe mehr im Leben und Schmerzen hat, neigt eher zu Depressivität. Eine Aufgabe im Leben zu haben sei also bedeutsam, egal worum es sich handele. 

Eine wunderbare Symbolik habe die Namensgebung des Hauses: Georg Brauchle habe etwas für das Gemeinwohl getan. Wenn wir jene, die etwas für uns getan haben, immer wieder ins Gedächtnis rufen, lebt die Person in den nachfolgenden Generationen weiter. Durch die Verwendung und Nennung des Namens werde seine Existenz unsterblich. Viele alte Menschen streben danach, in den Erinnerungen der anderen weiterzuleben. Die Gesellschaft müsse einen kulturellen, sozialen und institutionellen Rahmen schaffen, in dem alte Menschen die Möglichkeit haben, sich so einzubringen, dass dies gelingen kann.

Der zunehmend hohe Anteil hochaltriger Menschen bereitet dem Gerontologen keine Sorgen, ganz im Gegenteil: "Durch die alternde Gesellschaft wächst uns ein unglaubliches kulturelles Kapital zu. Wir müssen nur lernen, wie wir damit umgehen und es nutzen", so Kruse.

Durch die alternde Gesellschaft wächst uns ein unglaubliches kulturelles Kapital zu. Wir müssen nur lernen, wie wir damit umgehen und es nutzen.

Prof. Dr. Andreas Kruse

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse

Der Gerontologe, Psychologe und Demograph Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse leitet an der Universität Heidelberg das Institut für Gerontologie und auch die Altenberichtskommission der Bundesregierung. Zum Jubiläum, das im Georg-Brauchle-Haus in München gefeiert werden konnte, hielt er den Festvortrag. 

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