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alternovum Ausgabe 1/2023

Gemeinsinn: der sechste = der soziale Sinn

Zentrale Aspekte und Erkenntnisse. – Alternovum-Titelbeitrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Aleida Assmann und Prof. Dr. Dr. h.c. Jan Assmann

Konstanz, 31. März 2023

Seit einem Jahrzehnt stapeln sich die Krisen, unsere Gesellschaft steht vor ungekannten Herausforderungen. In dieser Situation macht sich das Bundesministerium des Inneren Gedanken über „die Neubelebung und -verortung einer gemeinsamen Identität und eines belastbaren Wertefundaments, das uns verbindet“. Daher hat dieses Ministerium „eine Heimatabteilung eingerichtet. Ihre Aufgabe ist es, den Zusammenhalt, das Gemeinschaftsgefühl und die Identifikation in bzw. mit unserem Land zu erhöhen.“ 

Wie stellt man angesichts von Krisen, Diversität und Spaltungen ein solches Gemeinschaftsgefühl her? Es braucht eine Stärkung des Vertrauens in die Demokratie und die Regierung, eine Identifikation mit dem eigenen Land, aber auch die Erfahrung des vorbehaltlosen Aufgenommenseins mit gleichen Rechten und der Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung der politischen und gesellschaftlichen Umwelt. Unter solchen Umständen kann ein Land für die Einheimischen Heimat bleiben und für die Zugezogenen zu einer neuen Heimat werden. 

Doch mit dem Stichwort "Zusammenhalt" sind erst die Rahmenbedingungen erfasst, die das Miteinander der Menschen in einer Gesellschaft bestimmen. Der Rahmen ist entscheidend, aber was innerhalb dieses Rahmens passiert, ist Sache der Bürgerinnen und Bürger. Sie sind es, die gemeinsam das Klima des Zusammenlebens, die Regeln der Nachbarschaft und die Möglichkeiten und Formen des gegenseitigen Umgangs schaffen. Als einen neuen Leitbegriff für die Impulse und Aktivitäten, die die einzelnen Menschen in diesen Rahmen einbringen können, schlagen wir das Wort "Gemeinsinn" vor.

Unter Gemeinsinn verstehen wir den sozialen Sinn, der zusammen mit den anderen fünf als sechster Sinn jedem Menschen angeboren ist. Ob sich dieser Sinn entwickelt oder verkümmert, das hängt jeweils von der Kultur und ihren Werten ab, in die man hineingeboren wird. In der westlichen Kultur stand die Fokussierung auf das eigene Ich lange Zeit im Zentrum der Persönlichkeitsentwicklung, außerdem herrschten Rollenbilder vor, die dem Mann empfahlen, sein Ego zu stärken und auszuleben, während die Frau eher angewiesen war, ihre sozialen Fähigkeiten zu entwickeln, um sich als Stütze von Mann und Kindern einzusetzen. 

Hier kommt ein Beispiel für Gemeinsinn. Im Rahmen der letzten Fußball-Weltmeisterschaft in Katar gingen Bilder um die Welt, die Unverständnis und Erstaunen ausgelöst haben. Gemeint sind nicht die Provokationen einiger Fans, die, um Aufmerksamkeit zu erzwingen, mit Stör-Aktionen die Sicherheit anderer und den Verlauf der sportlichen Veranstaltung aufs Spiel setzten. Es waren Bilder der japanischen Fans, die nach Ende der Spiele die Tribünen säuberten. Das war so ungewöhnlich, dass diese Bilder Schlagzeilen machten und in eine Reihe von Fragen mündeten. Warum haben sie diese Aufgabe nicht den Ordnungskräften überlassen? Und warum haben sie sich dabei nicht auf ihren eigenen Fanblock beschränkt? Die Aufräumaktion stieß erst auf Unverständnis, dann auf Nachdenken und schließlich auf Anerkennung. Denn die japanischen Fans taten dies nicht zugunsten ihres eigenen Teams, sondern für das Sportereignis als Ganzes: „Wir hinterlassen keinen Müll, wir respektieren diesen Ort.“ 

Wenn wir über die Geschichte und Praxis des Gemeinsinns nachdenken, kann die westliche Kultur nicht als Ursprung und Vorreiter dieser Entwicklung gelten. Wir sind uns der Gefahren durchaus bewusst, die durch starke kulturelle Prägungen entstehen können. Ein radikaler Islamismus kann ebenso wie ein gesteigerter Nationalismus gefährliche Folgen für das Zusammenleben in einer Gesellschaft haben. Aber auch der zum Egoismus gesteigerte Individualismus kann ein Hindernis für das Gemeinwohl sein. Die Grundlagen mitmenschlichen Sozialverhaltens müssen heute nämlich nicht nur gegen in sich abgeschlossene migrantische Ethnokulturen, sondern ebenso gegen die kulturellen Normen der neoliberalen Gesellschaft durchgesetzt werden, die auf ungebremsten Wettbewerb, blinden Konsum und den Erfolg des Einzelnen auf Kosten anderer ausgerichtet sind.

Gemeinsinn entwickeln die, die über die Eigengruppe hinweg ein gemeinsames Projekt oder Anliegen in den Blick nehmen, sich gegenseitig verpflichten und einbringen, ohne andere dabei auszuschließen. Gemeinsinn braucht starke und selbstbewusste Individuen, denn er verlangt nicht, dass man sich ein- oder unterordnet, sondern dass man sich den anderen zuwendet und sie einbezieht. 

Alte und neue Einsichten zum Thema Gemeinsinn

Die Demokratie, so hören wir immer wieder, braucht mündige, selbstbestimmte und wehrhafte Bürger, die von ihrer Freiheit Gebrauch machen und Verantwortung übernehmen. Sie braucht aber ebenso soziale Bürger, die über die festen Allianzen des Geldes oder des Parteibuchs hinaus Verbindungen knüpfen, Projekte ankurbeln und den guten Geist des Zusammenlebens stärken, kurz: Sie brauchen Gemeinsinn. 

Wie spielen hier politische, persönliche, psychologische, pädagogische und kulturelle Faktoren zusammen? Ein lebhaftes Anschauungsfeld bieten heute die Städte mit hohem Migrationszuzug. Das Klassenzimmer ist ein getreuer Spiegel der Gesellschaft im Kleinen. Hier findet in einer Nussschale statt, was auch in anderen sozialen Räumen geschieht. Hier werden die einschlägigen Erfahrungen gemacht und Lösungen erprobt. Wichtig dabei ist: Die Ausbildung des sechsten sozialen Sinns ist eine Aufgabe für alle Mitglieder der Gesellschaft. Hier gibt es viel zu tun, aber, und das ist die gute Nachricht: Hier gibt es auch einen Schatz von Wissen, an den man anknüpfen kann, und zwar altes ebenso wie neues. 

Lange bevor es wissenschaftliche Forschung und Experimente zu diesem Thema gab, ist Wissen über Gemeinsinn und die soziale Kompetenz des Menschen in verschiedenen Kulturen unter dem Namen "Weisheit" tradiert worden. Dieses Wissen besteht aus praktischen Verhaltensregeln, die als Korrektiv gegen drei grundmenschliche Schwächen eingesetzt werden, die den Aufbau einer sozialen Welt verhindern: Egoismus, Gier und Gewalt.

Diese Impulse gibt es immer schon, seit es Menschen gibt, aber ebenso lange gibt es auch Strategien ihrer Bändigung und Überwindung. Gemeinsinn steht hier als konkretes Beispiel für ein Sozialtraining, das auf Mäßigung, Reflexion, Ausgleich und Solidarität ausgerichtet ist. Als wahr gilt hier, was sich bewährt und langfristige und nachhaltige Formen friedlichen Zusammenlebens ermöglicht. Die goldene Regel dieses Erfahrungsschatzes ist in allen Kulturen der Welt hinterlegt. Sie lautet: "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu." 

Seit dem Jahr 2000 gibt es zum Thema Gemeinsinn auch ganz neue Einsichten. Damals gab es einen Sprung in den Neurowissenschaften, der mit einer technischen Neuerung einherging. Zum ersten Mal war es möglich, mit einem nichtinvasiven Verfahren Gehirnprozesse von Menschen in Aktion abzubilden. Mit diesem neuen bildgebenden Verfahren wurden zum ersten Mal neue empirische Befunde aufgezeichnet, die das Menschenbild der westlichen Welt deutlich erweitert haben. Dieses war lange Zeit auf den Homo oeconomicus ausgerichtet, der sich selbst zum Mittelpunkt der Welt machte und ausschließlich auf den eigenen Nutzen und Vorteil bedacht war. Diese ausschließliche Fixierung auf die eigenen Wünsche und Bedürfnisse wurde korrigiert, als die Hirnforschung begann, Empathie-Ströme zu messen und bei Kleinkindern die Fähigkeit entdeckte, sich in die Lage von anderen zu versetzen. Seitdem wissen wir: Menschen sind von Grund auf sensibel für die Bedürfnisse anderer und erleben sogar Glück und Sinnhaftigkeit, wenn sie für andere etwas ermöglichen oder leisten können. Die Natur bringt folglich keine "Ich-linge", "Singularitäten" und "Egomanen" hervor; das tun allein die Kultur, Politik, Wirtschaft oder Werbung, die dieses Verhalten den Verbrauchern einer spezifischen Gesellschaft als Vorbild einreden. 

Die Grundlagen mitmenschlichen Sozialverhaltens müssen heute nicht nur gegen in sich abgeschlossene migrantische Ethnokulturen, sondern ebenso gegen die kulturellen Normen der neoliberalen Gesellschaft durchgesetzt werden, die auf ungebremsten Wettbewerb, blinden Konsum und den Erfolg des Einzelnen auf Kosten anderer ausgerichtet sind.

Aleida und Jan Assmann

Für diesen Paradigmenwechsel des Menschenbildes der westlichen Kultur im 21. Jahrhundert hat sich auch der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin energisch eingesetzt. In seinem Buch Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein (2010) empfahl er seinen Landsleuten, mit dem sog. ‚amerikanischen Traum‘ ein Weltbild aufzugeben, das ausschließlich auf Leistung und Wettbewerb gegründet war. Es sei höchste Zeit, mahnte er, diese Ideologie durch das Leitbild einer ‚empathischen Gesellschaft‘ zu ersetzen. 

Menschen verändern ihre Normen und Werte nicht auf Kommando. Sie lassen sie sich auch nicht einfach von außen oder von oben diktieren. Die Gesellschaft ist oft sehr zäh, indifferent und teilnahmslos, wenn es um die Änderung von inneren Haltungen geht.  Es bedarf immer eines neuen Bewusstseins und eines Gefühlswandels für die Bereitschaft, einen solchen Wandel auch von innen zu vollziehen und neue Rahmenbedingungen zu schaffen. Ein Generationenwandel kann dabei sehr hilfreich sein.

Es ist höchste Zeit, diese wichtigen philosophischen, psychologischen und neurowissenschaftlichen Einsichten umzusetzen und einen Wandel der Werte einzuleiten, der auch ins Alltagswissen der Bevölkerung eindringt und sich in den Verhaltensregeln niederschlägt, die von Anfang an im Klassenzimmer eingeübt werden sollten. Unter diesen Umständen könnte Gemeinsinn zu einem Oberbegriff für alle Formen von Solidarität werden, die die Schranken zwischen Individuen und zwischen Gruppen überschreiten, um willkürliche Zuschreibungen, Abgrenzungen und Gegensatzbildungen zu unterlaufen und den so wichtigen sechsten, den sozialen Sinn zu stärken. 

Die Autoren

Professores Aleida und Jan Assmann

Das Autorenpaar war an verschiedenen Lehrstühlen aktiv und wurde im Jahr 2018 für seine Publikationen mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Aleida Assmann ist Anglistin, Ägyptologin sowie Literatur- und Kulturwissenschaftlerin. Jan Assmann ist Ägyptologe, Religionswissenschaftler und Kulturwissenschaftler. Beide beschäftigen sich insbesondere mit Erinnerungskulturen.

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