KWA EXKLUSIV-INTERVIEW – von Sieglinde Hankele.
Frau Mutter, zu Beethovens 250. Geburtstag im vorigen Jahr legten Sie gemeinsam mit Yo-Yo Ma, Daniel Barenboim und dem West-Eastern Divan Orchestra eine virtuose Aufnahme des Tripelkonzertes und der Siebten Symphonie vor. Damit begeisterten Sie Menschen auf der ganzen Welt. Parallel dazu erschütterte ein Virus die ganze Welt. Ein Virus, an dem Sie selbst schon in der ersten Welle erkrankten und erfreulicherweise wieder ganz davon genesen sind. Wie bewerten Sie das Jahr 2020?
Ich möchte den unzähligen Familien, die geliebte Menschen verloren haben, mein tiefes Mitgefühl ausdrücken, und auch denjenigen, die bangen, weil ein Angehöriger auf der Intensivstation liegt. Auch wenn sie medizinisch hervorragend versorgt werden, ist es doch schlimm, einen Menschen an der Pforte abgeben zu müssen. Das Alleine-sterben-müssen macht die Pandemie besonders schmerzhaft. Herzzerreißend fand ich die ersten Monate mit Blick auf Italien. Inzwischen hat man Wege gefunden, die Ansteckungsketten zu durchbrechen, was aber zum Thema Einsamkeit führt, die viele Menschen betrifft. Das hat die Pandemie nicht nur für alte Menschen, sondern auch für ihre Kinder und Enkel hart gemacht, von den Ärzten und Pflegekräften ganz zu schweigen. Corona verlangt von uns maximale Empathie sowie die Fähigkeit, uns immer wieder an dieses wunderbare Samariterkapitel zu erinnern: Was du meinem Bruder antust, das tust du auch mir an. Das verstehe ich als Aufforderung, mit Rücksicht auf andere durch die Pandemie zu gehen. Für mich persönlich hat das Jahr 2020 den schmerzhaften Verlust von Freunden bedeutet. Aber auch den Verlust meines Berufes. Ich bin praktisch arbeitslos seit März vorigen Jahres, mit wenigen Ausnahmen im Frühherbst.
Viele Kulturschaffende konnten und können aufgrund von Corona-bedingten Restriktionen nur mit Mühe ihren Lebensunterhalt bestreiten. Welche Gedanken haben Sie dazu?
Ich sehe mit großer Sorge, wie undifferenziert die Politik in den Herbstmonaten den sogenannten Lockdown-light verhängte, dabei Hygienekonzepte und Studien ignorierte, denen zufolge man auf Sparflamme mit FFP2-Masken noch emotionale Nähe und Kulturaustausch hätte pflegen können. Socken kaufen war möglich. Musik, Theater, Kino und Museum hingegen nicht. Als ob man den Clown, so wie im 18. Jahrhundert, vom Hofe jagt, wenn man ihn nicht braucht. Bei Staatsakten und Auslandsreisen wird die Musik als Plattform genutzt, auf der man sich emotional begegnen kann. Da versucht man auch gerne, mit deutscher Kultur zu punkten. Dass die Novemberhilfen so lange nicht flossen, und wenn, dann äußerst spärlich, ist eine Schande. Viele Existenzen sind bereits ruiniert. Und zahllose private Veranstalter werden sich von dieser langen Durststrecke nicht erholen können. Das wird sich nicht nur empfindlich auf die Preise auswirken. Es steht zu befürchten, dass es 2022 viele sehr wertvolle Kulturangebote nicht mehr geben wird.
Junge Künstler haben eine tiefe Cäsur erfahren, noch ehe sie ihr Talent entfalten konnten. Hat die Pandemie Karrieren zerstört, ehe sie begonnen haben?
Es gibt viele Musiker, Schauspieler, Fotografen und andere Freischaffende, die kein regelmäßiges Einkommen haben und kein Netz, das sie auffängt. Übrigens nicht nur die Jungen. Die fahren jetzt Taxi, putzen Böden oder schleppen Getränkekisten. Man kann Künstler, wie auch Athleten, aber nicht einfach an- und ausknipsen. Nur diejenigen, die dem Üben beziehungsweise Training täglich mehrere Stunden widmen, können ein gewisses Niveau halten. Einen anderen Job anzunehmen bedeutet für viele, den ursprünglichen Beruf für immer zu verlassen. Das führt zu einer tragischen Ausdünnung der Vielfalt.
Mit Ihrer Stiftung fördern Sie schon seit Jahren junge hochbegabte Solisten. Finanzielle Förderung ist das eine. Wie kommen die Stipendiaten mit der Situation zurecht?
Bei meiner Stiftungsarbeit ist mir wichtig, dass die jungen Musiker ihr soziales Gewissen entwickeln und sich als Bindeglied der Gesellschaft erkennen. Der kirchliche Raum war ja der einzige Raum, der uns Musikern blieb. Deshalb haben wir im Winter etwas gemacht, was sich als Geschenk erwies. Wir konnten Gottesdienste mitgestalten, unsere Musik endlich wieder teilen. Das war nicht nur ein musikalisches Gebet und eine Umarmung für ein Publikum, das uns jahrzehntelang treu begleitet hat, sondern eine Benefiz-Aktion, bei der wir Geld sammeln konnten für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung. Das waren 12 Auftritte. Begonnen haben wir in Leipzig in der Thomas-Kirche, wir waren aber auch in Frankfurt, in Stuttgart, im Berliner Dom, in Köln und natürlich in München. Auch in Altenheimen haben wir gespielt. Meiner Wahrnehmung nach waren viele junge Musiker auch in der Pandemie sehr produktiv und aktiv, streamen derzeit im Internet. Das bringt ihnen zwar kein Geld, was dringend nötig wäre, aber da kann man immerhin seine Musik zu Gehör bringen und sich auch austauschen. Das ist besser als nur zu Hause zu sitzen und im luftleeren Raum zu üben.
Welche Pläne haben Sie für die Zeit nach der Pandemie?
Für die Zeit nach der Pandemie habe ich einige Uraufführungen in Planung, von denen ich hoffe, dass sie sich realisieren lassen. Jetzt im Juli möchte ich in den USA ein Open-Air-Konzert mit Werken von John Williams geben. Als ich vorigen September in Berlin zum letzten Mal ein Live-Konzert spielen durfte, konnte ich dabei sein, als am Bebelplatz in Berlin Beethovens 9. gespielt wurde. Als „Freude“, „Freude“ erschallte, bin ich in Tränen ausgebrochen: weil mir bewusst wurde, wie kongenial Beethoven Schillers Philosophie von der Bruder- und Schwesternschaft vertont hat. Vom Erreichen dieses Idealzustandes sind wir wahrscheinlich so weit entfernt wie zu Beethovens Zeiten. Für mich ist die richtige Konsequenz aus der Pandemie dennoch: immer ein Miteinander und kein Gegeneinander. Diese Haltung teile ich mit vielen Kollegen. Wir spielen miteinander für andere. Darin finde ich meine Lebensphilosophie.
Wollen Sie künftig etwas anders machen als vor der Pandemie?
Ich habe den Eindruck, dass die Geschwindigkeit, in der wir meinen, leben, reisen und konsumieren zu müssen, von vielen hinterfragt wird. Das ökologische Bewusstsein scheint sich mehr Bahn gebrochen zu haben, und auch das Verständnis dafür, dass das Hier und Jetzt Ziel unseres Lebens ist – und nicht das Morgen, das wir nicht wirklich bestimmen können. Aber auch die Nächstenliebe hat eine andere Bedeutung gewonnen, weil wir in der Rücksichtslosigkeit unserer kapitalistischen Gesellschaft die Fragilität des Lebens völlig übersehen haben. Nicht nur Menschen mit Vorerkrankungen sind gefährdet. Und das Problem betrifft die ganze Welt. Mit Blick auf den neuen amerikanischen Präsidenten hege ich die, zugegebenermaßen idealistische, Hoffnung, dass wir wieder enger zusammenrücken und die Pandemie auch eine globale Empathie einläuten könnte. Dafür steht ja die Musik.
Sie engagieren sich seit über zwanzig Jahren für Save the Children, helfen damit hungernden, missbrauchten, benachteiligten Kindern, die nun zusätzlich von Corona bedroht sind. Was geht Ihnen dabei durch den Kopf?
Wenn ich an die Arbeit im Jemen denke, an diesen schrecklichen Krieg, der jetzt ins sechste Jahr geht und mehr als 24 Millionen Menschen betrifft, ist das eine Katastrophe. Die Hälfte der Betroffenen sind Kinder. Mit 100 Euro können wir im Jemen fast acht Wochen lang eine Familie ernähren. Und auch mit kleinen Beträgen kann man Leben retten oder Leben wieder lebenswert machen. Bei humanitären Projekten ist letzten Endes das Ziel, den anderen in seiner Not wahrzunehmen und ihm die Hand zu reichen.
Dass die Novemberhilfen so lange nicht flossen, und wenn, dann äußerst spärlich, ist eine Schande. Viele Existenzen sind bereits ruiniert.
Anne-Sophie Mutter
Die 1963 in Rheinfelden (Baden) geborene Anne-Sophie Mutter debütierte sie 1977 bei den Salzburger Pfingstkonzerten mit Mozarts G-Dur-Konzert unter Herbert von Karajan. In der Meisterklasse des damaligen Konservatoriums Winterthur hat die Schweizer Virtuosin Aida Stucki ihr Talent weiterentwickelt. Konzerte und Einspielungen mit den Berliner Philharmonikern unter Karajan in den 1980er-Jahren verhalfen Anne-Sophie Mutter zu internationaler Bekanntheit.
Seit nunmehr 45 Jahren konzertiert die Virtuosin weltweit in allen bedeutenden Musikzentren und prägt die Klassikszene als Solistin, Mentorin und Visionärin. Die Geigerin ist viermalige Grammy® Award Gewinnerin und Trägerin des Großen Bundesverdienstkreuzes, des französischen Ordens der Ehrenlegion, des Bayerischen Verdienstordens, des Großen Österreichischen Ehrenzeichens sowie zahlreicher weiterer Auszeichnungen.
Einen anderen Job anzunehmen bedeutet für viele Musiker, den ursprünglichen Beruf für immer zu verlassen. Das führt zu einer tragischen Ausdünnung der Vielfalt.
Anne-Sophie Mutter
Für mich ist die richtige Konsequenz aus der Pandemie: immer ein Miteinander und kein Gegeneinander. Wir spielen miteinander für andere. Darin finde ich meine Lebensphilosophie.
Anne-Sophie Mutter