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alternovum Ausgabe 1/2022

Anne und Dr. Jürgen Oberg: Erst Moskau, dann Peking

Auch wenn ihre Russland- und China-Jahre lange zurückliegen, kann man den Erzählungen des Paares so Einiges entnehmen. – Ein Beitrag von Sieglinde Hankele.

Ottobrunn, 03. April 2022

Ihr Leben bietet Stoff für einen mehrteiligen Film. Zwei spannende Drehorte wären Moskau und Peking. Die Protagonisten sind Anne und Dr. Jürgen Oberg. Sie ist diplomierte Übersetzerin, er promovierter Volkswirt. Ihre gemeinsame Geschichte begann am Düsseldorfer Hauptbahnhof im Herbst 1972.

Sie kam gerade aus Brüssel, von der Arbeit bei der Europäischen Gemeinschaft, wo sie vom Französischen ins Deutsche übersetzte, saß über einem Russisch-Lehrbuch. Das weckte sein Interesse. Russisch interessierte ihn, seit er in Berlin an der Sektorengrenze die kyrillischen Buchstaben gesehen hatte, die das Gleiche bedeuten mussten wie „You are leaving the American Sector“. Sie waren der Grund dafür, dass er ab der Obersekunda Russisch lernte. Er ist in Flensburg aufgewachsen, sie in Bremen.

Schon kurz nach der ersten Begegnung wurden die beiden ein Paar. Obwohl sie gerade erst europäische Beamtin geworden war, zögerte sie nicht, diesen Status für ein gemeinsames Leben aufzugeben. Sicherlich ahnte sie, dass es mit ihm nie langweilig werden würde. Ihre Reise durchs Leben führte das Ehepaar an ferne Orte und im Sommer 2020 von Neubiberg nach Ottobrunn ins KWA Stift Brunneck. Seit vorigem Frühjahr engagiert sich Anne Oberg dort im Stiftsbeirat.

Moskau im Jahr 1973. Als Jürgen Oberg gerade mal 31 war, entsendete sein Arbeitgeber Siemens ihn nach Moskau. Er war geradezu dafür prädestiniert.

Neben Volkswirtschaft hatte er Russisch studiert. In seiner Diplomarbeit hatte er sich mit den damaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen befasst, in seiner Doktorarbeit mit Usbekistan. Außerdem war er im Rahmen eines Wissenschaftler-Austauschs zehn Monate lang an der Lomonossow-Universität in Moskau gewesen. Während dieses ersten Moskau-Aufenthalts, im Dezember `66, hingen rote Spruchbänder über den Straßen. Darauf stand: „Nichts ist vergessen. Niemand ist vergessen.“ Man gedachte der Schlacht um Moskau, die 25 Jahre zurücklag.

Die eher kalte, beinah feindliche Atmosphäre wurde durch andere Erlebnisse kompensiert. So zum Beispiel, als eine Sprecherin im Staatsradio Musik „des großen deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach“ ankündigte oder eine Frau auf dem Telegrafenamt ihm „frohe Weihnachten“ wünschte. 

Als Leiter eines sogenannten Repräsentantionsbüros von Siemens in Moskau war es sieben Jahre später Jürgen Obergs Aufgabe, Kontakte mit staatlichen Stellen auszubauen und zu vertiefen, um Geschäfte anzubahnen. Außenhandel lief in der Sowjetunion in den 1970er-Jahren ausschließlich über die staatlichen Außenhandelskontore.

Jürgen Oberg hatte verstanden, wie Russen „ticken“. Seine Mission war erfolgreich, Siemens konnte Kontrakte abschließen. Das erste große Projekt war die Installation eines Automatisierungssystems für ein Breitbandwalzwerk im Jahr 1973. Jürgen Oberg beobachtete natürlich aufmerksam das politische Geschehen.

„Leonid Breschnew war Generalsekretär der KPdSU, ab 1977 auch sowjetisches Staatsoberhaupt. Doch sein körperlicher und geistiger Verfall schritt fort. Zuletzt konnte er gerade noch vorlesen, was andere diktiert hatten.“ Die politische Konstellation war fragil, änderte sich jedoch erst mit dem Tod von Breschnew. Da war Familie Oberg längst zurück in Deutschland, nach sechseinhalb Jahren in Moskau. 

Statt der Prawda habe ich Tolstoi gelesen. So lernte ich Russisch lieben.

Anne Oberg

„Ich war anfangs ziemlich naiv“, sagt Anne Oberg, „wollte in Moskau russische Freunde finden.“ Rasch musste sie erkennen, dass dieser Wunsch nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Mit westlichen Ausländern sollten Russen nicht befreundet sein.

In den Moskau-Jahren kamen beide Söhne zur Welt. –  Wie kinderfreundlich Russen sind, zeigte sich bei ihrer russischen Haushaltskraft. „Als der ältere Sohn mal im Sandkasten buddelte, setzte sich ein Mütterlein neben mich auf eine Bank, um ihm beim Spielen zuzusehen. Sowie sie jedoch hörte, dass wir aus Westdeutschland kamen, bekreuzigte sie sich und ging.“ Ihre Russisch-Lehrerin brachte Anne Oberg die russische Kultur näher. „Sie wurde mir von staatlicher Seite zugewiesen. Doch statt der Prawda haben wir Tolstoi gelesen.“ So lernte Anne Oberg Russisch lieben.

Richtig versöhnt mit Russland hat sie sich freilich erst viele Jahre später. Als Neubiberg 1992 eine Städtepartnerschaft mit Tschernogolovka einging und Austausche organisiert wurden, fanden auch die Obergs russische Freunde. 

Peking im Jahr 1984. Hatte das Ehepaar inzwischen Chinesisch gelernt? Anne Oberg verneint. „Chinesisch ist für uns Europäer schwer erlernbar. Statt Buchstaben gibt es Silben und beim Sprechen verschiedene Tonhöhen.“ Nein, die Sprache war nicht der Grund für die Entsendung. In der Siemens-Zentrale in München sagte man zu dem Mann, der sich in der Sowjetunion bewährt hatte: „Wer Moskau kann, der kann auch Peking.“ 

China gehört zu den ältesten Zivilisationen der Menschheit. Jürgen und Anne Oberg waren neugierig auf das Land. Und so gingen sie samt Kindern für fünf Jahre in die Volksrepublik, die genau wie die Sowjetunion von einer kommunistischen Partei geführt wurde. Die berufliche Aufgabe in Peking war die gleiche wie zehn Jahre vorher in Moskau. Für Siemens ging es diesmal um Kraftwerke, Medizintechnik und Telefontechnik. Den Anfang machte wieder Jürgen Oberg mit einem „Representation Office“ und dem geduldigen Aufbau von Kontakten und Netzwerken. Mit Englisch kam er in der Geschäftswelt fast überall gut durch, wo nicht, unterstützte ein Dolmetscher. 
 

Da China Geschäfte in der Landeswährung abwickeln und vor Ort fertigen wollte, ging Siemens „Joint Ventures“ ein und baute im Land Produktionsstätten auf. Die Chinesen waren von „Made in Germany“ begeistert, wollten von deutschen Ingenieuren lernen. „Die Qualität der in China gefertigten Produkte war schon nach drei Jahren die gleiche wie die der deutschen“, sagt Jürgen Oberg und nennt auch den Grund: „Chinesen sind äußerst wissbegierig und fleißig.“ Und aus Geld mehr Geld zu machen, liege Chinesen im Blut. Viele chinesische Führungskräfte waren Ingenieure, zudem sehr gebildet. Der spätere Staatspräsident Jiang Zemin zitierte am runden Tisch Goethe und Kant in deutscher Sprache.

Die Kinder besuchten in Peking die Schule der Deutschen Botschaft. Als eine Ortskraft für Religionsunterricht gesucht wurde, übernahm diesen Anne Oberg. Sie arbeitete nach dem deutschen Lehrerhandbuch. „Das war für mich sehr bereichernd“, sagt sie.

Freundschaften mit Einheimischen zu schließen war auch in China nicht möglich. Doch die Chinesisch-Lehrerin von Anne Oberg baute auch hier eine Brücke zum Land. Zudem stellte sie den Kontakt zu einem älteren Chinesen her, der fließend Französisch sprach. Er führte sie und drei andere Frauen in die Kunst der Kalligraphie ein und brachte ihnen die uralte Kultur näher. Chinesisch lernten sie immerhin so viel, dass sie sich auf dem Markt und mit den Haushaltshilfen verständigen konnten.

In China stand nicht das Individuum, sondern das Wohl der Gesellschaft im Vordergrund. Das ging so weit, dass die Wohneinheit gemeinsam entschied, welche Frau ein Kind bekommen durfte.

Dr. Jürgen Oberg

An schöne Reisen erinnert sich das Ehepaar gerne. Unter anderem haben sie sich mit den Kindern die Terrakotta-Armee nahe der alten Kaiserstadt Xi’an angeschaut. Wobei das Reisen in China damals noch nicht so aussah wie heute. Für die Fahrt auf dem Jangtse durch die Drei-Schluchten-Region bestiegen sie ein Transportschiff. Die Proteste Tausender auf dem Tiananmen-Platz im Juni 1989 beendeten die Zeit der Familie in Peking abrupt. Als sie vier Jahre später Peking noch einmal besuchten, erkannten sie vieles nicht wieder. Zahllose neue Gebäude wuchsen in den Himmel. Die Stadt boomte.

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