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alternovum Ausgabe 1/2021

Be-Geisterung statt Konsum

Warum Kultur für ein erfülltes Menschsein notwendig ist. – Ein Beitrag von Dr. Christoph Quarch.

Fulda/Unterhaching, 30. März 2021

Die europäische Kultur beginnt mit zwei Worten: Gnothi sauton – „Erkenne dich selbst!“ Eingemeißelt in die Vorhalle des Orakels zu Delphi ermutigte mit ihnen der Gott Apollon die Besucher seines Heiligtums, sich die Frage vorzule-gen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Oder besser noch: was es heißt, ein Mensch zu werden. Denn die alten Griechen lasen dieses Wort als Einladung, das Potenzial des Menschseins zu entfalten und ein guter, großer, schöner Mensch zu werden: ein Mensch, der zu erkennen gibt, was ein erfülltes, sinn-volles und wahres Menschenleben ist. Und sie folgten dieser Einladung, indem sie in kurzer Zeit auf engstem Raum eine Kultur schufen, die bis heute ihresgleichen sucht. 

So sehr waren die Griechen damit beschäftigt, ihre Kultur erblühen zu lassen, dass sie es versäumten, dem, was sie dort trieben, einen Namen zu geben. So kommt es, dass zwar unsere Kultur ihre Wurzeln im alten Griechenland hat, nicht aber das Wort, mit dem wir sie bezeichnen. Kultur ist lateinischen Ursprungs. Als cultura galt im alten Rom der Ackerbau, die Hege und Pflege des Bodens. Diese Herkunft verrät uns etwas über das Wesen der Kultur: Immer hat sie es mit der Natur zu tun – genauer: mit dem Lebendigen, das in ihr kultiviert wird. Das verortet die Kultur in einer Zwischenstellung. Sie hat zwei Gegenteile: Auf der einen Seite die Wildnis, die unkultivierte Natur, von der sie sich dadurch unterscheidet, dass sie von Menschenhand angelegt und gepflegt wird; auf der anderen Seite die Technik, von der sie sich dadurch unterscheidet, dass sie nicht gemacht ist, sondern die gegebene Natur in ihrem Wachstum unterstützt. Das ist das Entscheidende: Kultur ist die menschliche Behandlung dessen, was sich seiner Macht entzieht. Sie ist das Projekt, natürliches Wachstum zu fördern, zu nähren, zu unterstützen und so zu lenken, dass es seine Potenziale frei entfalten kann. Man kann sich das klar machen am Beispiel eines Gartens, der weder eine Wildnis noch ein Apparat ist, sondern gestaltete Natur.

Menschliche Kultur dient der freien Entfaltung des Menschseins. Weder ist sie eine Technik noch ein bloßes Laissez faire. Sie ist die Kunst, die Menschlichkeit des Menschen auszubilden. Sie übt keine Gewalt und zwingt der menschlichen Natur nichts auf. Ohne Kultur jedoch wäre es ihm schwerlich möglich, seine Potenziale zu entfalten. Denn der Mensch ist ein komplexes Wesen. Durch seinen Leib ist er ins große Netz des natürlichen Lebens verwoben. Ihm gilt die Körperkultur: die Hege und Pflege des Leibes, die mehr ist als nur die Versorgung mit dem Überlebensnotwendigen. Sie ist für das Menschsein unerlässlich, denn mit ihr verhält der Mensch sich zu sich selbst, gibt sich ein Ansehen und feilt an seiner unverwechselbaren Identität. 

Doch der Mensch ist nicht nur Leib. Von allen anderen Lebewesen unterscheidet er sich durch den Geist. Ihn zu hegen und zu pflegen, ist die eigentliche Kulturleistung des Menschen. Denn die Ausbildung des Geistes, die Entfaltung der geistigen Potenziale ist es, was dem Menschenleben echten, tiefen Sinn verleiht. Es ist der Geist, der uns begeistert und Erfüllung schenkt. Doch der Geist ist wie der Körper ein Lebendiges, das der Hege und Pflege bedarf, um sich zu seiner ganzen Größe und Schönheit zu entfalten. Deshalb gibt es die Kultur. Ohne sie wären wir zwar auch Menschen – aber doch bemitleidenswerte Wesen, die weit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Unkultivierte Menschen sind nicht böse oder schlecht; sie sind tragische Figuren. So viel ungelebtes Leben, so viel ungenutzte Möglichkeit.

Menschen sind mit Geist gesegnet. Warum auch immer. Aber da es nun einmal so ist, stehen wir in der Verantwortung, unseren Geist zu kultivieren. Ja, genau: Als geistbegabte Menschen sind wir verantwortlich dafür, uns und andere zu kultivieren. Das hat damit zu tun, dass der Geist des Menschen für seine Entfaltung die Begegnung mit anderen braucht: mit anderen Menschen, mit anderen Kulturen und Epochen, mit Kunstwerken und mit der Natur. Der Geist in uns braucht Ansprache. Und wenn wir uns auch dessen manchmal nicht bewusst sind, wird sie ihm doch fortwährend zuteil. Alles, was uns begegnet, hat uns etwas zu sagen, geht uns etwas an, erheischt eine Antwort. Wo wir sie geben, da entsteht Kultur. 

Kulturerleben und Kulturschaffen gehören deshalb unauflöslich zusammen. Sie gebären einander. Wenn wir Kultur erleben, begegnen wir dem zu Kunstwerken, Skulpturen, Symphonien, Gedichten, Tänzen und Kinofilmen (um nur ein paar Beispiele zu nennen) geronnenen Geist früherer Kulturschaffender. Oder auch von Zeitgenossen. Und indem wir dem Erlebten Antwort geben – zum Beispiel dadurch, dass wir davon sprechen, ein Gedicht darüber schreiben oder irgendetwas anderes mit ihm anfangen, werden wir selbst zu Kultur-schaffenden, die ihren Geist bekunden. Kultur ist streng genommen ein ewiger Kreislauf der Be-Geisterung: Wir lassen uns ansprechen von anspruchsvollen oder wenigstens ansprechenden Kulturerzeugnissen und geben mit unserem eigenen Tun oder Handeln Antwort darauf. Darin erweisen wir uns der Kultur verantwortlich. Aber nur, wenn wir sie wirklich auf uns wirken lassen und sie nicht einfach nur genießen. Wer Kultur wie eine Ware konsumiert und sich von ihr nicht in ein lebendiges Gespräch verwickeln lässt, verhält sich ihr gegenüber unverantwortlich.

Kultur ist ein dauerndes Gespräch von Mensch und Welt: ein schöpferisches Gespräch, das umso lebendiger ist, wenn es zuweilen anstößig und irritierend ist. Kultur kann befremden. Vor allem die moderne Kunst ist groß darin. Aber gerade das Anstößige und Befremdliche brauchen wir, um uns zu kultivieren: um eine eigene, individuelle Persönlichkeit auszubilden. Denn nicht um uns zu uniformen, gleichgeschalteten Exemplaren einer Gattung zu erziehen, ist Kultur vonnöten, sondern um eine einmalige und unverwechselbare Variation auf das Thema Menschsein zu verwirklichen. Alles in der lebendigen Welt kennt nur das eine Ziel: Individualität, Einmaligkeit. Sie ist der Inbegriff der Potenzialentfaltung. Die Möglichkeiten des Menschseins sind unendlich. Im Wechselspiel, in der Begegnung und Interaktion mit der Welt nur eine davon wirklich zu entfalten: das ist die Idee von Bildung und Kultur.

Heute leben wir in einer Zeit, in der Kultur und Bildung nicht besonders hoch im Kurs stehen. Anfang März ergab eine Umfrage, dass sich 49 Prozent der Deutschen von einer Lockerung der Covid-Maßnahmen nichts sehnlicher erhoffen, als wieder ungehindert shoppen zu dürfen. Nur 32 Prozent hielten die Öffnung von Schulen und Bildungseinrichtungen für das Wichtigste. Und nur 7 Prozent sprachen sich für eine schnelle Öffnung von Museen und Kulturveranstaltungen aus. Das verrät etwas über die geistige Situation unseres Landes. Sie ist erschütternd. Sie ist erschütternd, weil wir uns als Gesellschaft von einer konsumgesteuerten Ökonomie betäuben lassen, die es uns zunehmend schwer macht, in den Kreislauf von Kulturerleben und Kulturschaffen zurückzufinden. Wir geben uns ab mit den Produkten einer Unterhaltungsindustrie, doch sind bei alledem nicht mehr begeistert. Im Gegenteil: Wir sind ent-geistert. Zumindest, wenn wir doch einmal aus dieser Trance erwachen und das Wunder der Kultur an uns erfahren. Das Wunder der Kultur?

Ja, das Wunder der Kultur. Denn sie spricht ja immer noch – und nur weil viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich von ihr angehen zu lassen, heißt das nicht, dass der in ihr kondensierte Geist verstummt ist. Nein, er spricht noch immer – leise zwar, doch eindringlich. Selbst noch aus zerstörten Werken fordert er uns schweigend auf, uns aufs Wagnis eines einmaligen Menschenlebens einzulassen. Davon zeugt ein Gedicht von Rainer Maria Rilke, das von der Begegnung mit dem Torso einer antiken Skulptur kündet. Es ist gewiss kein Zufall, dass es der Torso eines archaischen Apollon ist, der ganz so wie die Weihinschrift in Delphi dem Besucher zu Bewusstsein bringt, dass für ein echtes Menschsein die Kultur notwendig ist. Angesichts des Torsos hört der Dichter Worte, die ihn zu sich selber kommen lassen: „Du musst dein Leben ändern!

Die Ausbildung des Geistes, die Entfaltung der geistigen Potenziale ist es, was dem Menschenleben echten, tiefen Sinn verleiht.

Christoph Quarch

Kulturerleben und Kulturschaffen gehören unauflöslich zusammen. Sie gebären einander.

Christoph Quarch

Der Autor

Dr. Christoph Quarch

Dr. Christoph Quarch (*1964) ist Philosoph, Bestseller-Autor und Denkbegleiter. Er berät Unternehmen, unterrichtet an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet gemeinsam mit ZEIT-Reisen philosophische Reisen. Mit seinen Podcasts, Artikeln und zahlreichen Büchern erreicht er ein breites Publikum im gesamten deutschsprachigen Raum. Dabei schöpft er aus den Quellen der europäischen Philosophie, um tragfähige Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu finden. 2019 gründete der die Neue Platonische Akademie zur Entwicklung eines geistigen Paradigmas für das digitale Zeitalter. www.christophquarch.de

Kultur ist ein ewiger Kreislauf der Be-Geisterung: Wir lassen uns ansprechen von anspruchsvollen oder wenigstens ansprechenden Kulturerzeugnissen und geben mit unserem eigenen Tun oder Handeln Antwort darauf.

Christoph Quarch

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