Was sich geändert hat. – Ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Klie.
Sie wurde als Jahrhundertreform bezeichnet: Die Ablösung des alten Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts durch das Betreuungsrecht 1991. Die Entmündigung wurde abgeschafft. Die Freiheitsrechte von Menschen mit Behinderung, psychisch Kranken, aber auch und gerade von Menschen mit Demenz, sie wurden unter Schutz gestellt: Freiheitsentziehende Maßnahmen, die Gabe von Psychopharmaka zur Ruhigstellung, sie sollten auf das notwendigste Maß begrenzt werden. Sie bedürfen stets der Genehmigung, bei freiheitsentziehenden Maßnahmen auch durch das Betreuungsgericht.
Das deutsche Betreuungsrecht gilt international als vorbildlich. Als ich 1995 an der Universität in Matsjuma in Japan Familienrecht lehrte, stieß ich auf großes Unverständnis, als ich das damals neue deutsche Betreuungsrecht vorstellte: Kein Zentralregister für Entmündigte, rechtliche Handlungsfähigkeit auch für Personen, die einen Betreuer haben? Auch in Deutschland taten sich viele schwer mit der neuen Rechtslage.
Die Bewährungsprobe für den Rechtsstaat liegt im wirksamen Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft. Unser Grundgesetz verspricht Freiheit, auch die Freiheit, ein Leben zu führen, das andere nicht für vernünftig halten. Es war und ist ein kultureller Lernprozess für alle Beteiligten – in Familien, aber auch in der Ärzteschaft – Menschen, die ihre Angelegenheiten behinderungs- und krankheitsbedingt nicht mehr allein besorgen können, trotzdem als Persönlichkeiten, als Subjekte des Rechts, als mit Würde ausgestattete Personen zu sehen.
Die Behindertenrechtskonvention, die auch für alte Menschen mit Behinderung, etwa mit einer Demenz, gilt, machte es notwendig, das moderne deutsche Betreuungsrecht weiterzuentwickeln. Zum 1. Januar 2023 trat die Novelle in Kraft. Die wesentlichen Neuerungen sind in der nebenstehenden Übersicht zusammengefasst.
Die Bewährungsprobe für den Rechtsstaat liegt im wirksamen Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft.
Thomas Klie
Die neuen Bestimmungen sollen die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, zu denen auch Pflegebedürftige gehören, stärken. Dies geschieht dadurch, dass es eine Art Wunschbefolgungspflicht gibt. Wünsche, Präferenzen, die ein älterer Mensch geäußert oder in einer Verfügung schriftlich niedergelegt hat, von denen An- und Zugehörige wissen, sie gilt es zu befolgen. Die Grenze der Wunschbefolgungspflicht besteht dort und dann, wo sich die betroffene Person insbesondere in ihrem Vermögen erheblich und ihre Existenzgrundlage gefährdend "schädigt".
Auch haben Menschen das Recht, auch wenn sie einen Betreuer oder Bevollmächtigten haben, weiter selbst zu entscheiden. Erbschaftsicherung mithilfe des Betreuungsrechtes, sie gab und gibt es nicht (mehr). Das heißt natürlich nicht, dass nicht in Testamenten festgelegt werden kann, wer was erben soll. Auch vorzeitige Schenkungen sind möglich. Nur: Der Betreuer darf nicht seine eigenen Interessen verfolgen, das Erbe für sich bewahren. Er muss den Wunsch des Betreuten ernst nehmen und befolgen.
Über 1,2 Millionen Menschen in Deutschland haben einen „rechtlichen Betreuer“, der die rechtlichen Angelegenheiten für sie besorgt. Einen Betreuer zur Seite gestellt zu bekommen, das wünschen sich nur wenige. Durch Vorsorgevollmachten können wir alle Vorsorge treffen, dass es jemanden gibt, der dann, wenn wir selbst nicht mehr entscheiden können, in unserem Sinne für uns entscheidet – wenn wir jemanden haben, der bereit ist, diese Aufgabe zu übernehmen.
Einen Berufsbetreuer an die Seite gestellt zu bekommen, das soll nicht zuletzt aus Kostengründen vermieden werden. Von daher hat der Gesetzgeber die sogenannte erweiterte Unterstützung eingeführt: Die Betreuungsbehörden, die durch das Betreuungsgericht stets einzuschalten sind, haben die Möglichkeit, Menschen, die ihre eigenen Angelegenheiten nicht mehr besorgen können, etwa in Krisensituationen, oder nach einem Krankenhausaufenthalt zu unterstützen, Sozialleistungen zu veranlassen, Hilfen zu organisieren, sodass nach Möglichkeit eine rechtliche Betreuung gar nicht erst bestellt werden muss.
> Übersicht zum neuen Betreuungsrecht, das seit dem 1. Januar 2023 gilt.
Eine rechtliche Betreuung dient dem Grundrechtsschutz jener, die rechtliche Hilfe brauchen. Insofern ist es gut, dass es Betreuer gibt. Viele leisten sehr gute Arbeit. Manche von ihnen sind jedoch in die Kritik und in die Presse geraten: Kann man ihnen immer vertrauen? Das neue Betreuungsrecht will die Qualität der Berufsbetreuerinnen und -betreuer stärker in den Blick nehmen. Eine Registrierungspflicht wird eingeführt, Qualifikationsnachweise werden gefordert. Das sind wichtige Schritte, um das Vertrauen in das Betreuungswesen in Deutschland zu stärken.
Die größte Zahl von rechtlichen Betreuern arbeitet ehrenamtlich, engagiert sich als Partner, Sohn oder Tochter, Neffe oder Nichte für diejenigen, die allein nicht mehr zurechtkommen. Viele fühlen sich sehr gefordert durch die Aufgaben, die ihnen übertragen werden. Damit sie sich gegenseitig beraten können und Unterstützung erhalten, sollen sich ehrenamtliche Betreuerinnen und -betreuer leichter als bislang in Betreuungsvereinen organisieren oder ihnen anschließen können. Das dient ihrer Entlastung, der Beratung und auch der Sicherung der Qualität ihrer Betreuungsarbeit.
Lange gestritten wurde darum, ob Ehepartner das Recht erhalten, in gesundheitlichen Angelegenheiten füreinander Entscheidungen treffen zu können, wenn der andere aktuell nicht entscheidungsfähig ist. Davon gehen und gingen die meisten in Deutschland aus, dass sie ein solches Recht haben. Fakt ist: Das stand ihnen bis dato nicht zu. Seit dem 1. Januar 2023 gibt es ein Notvertretungsrecht für Ehegatten. Wenn es keine entsprechende Vorsorgevollmacht gibt, keine Betreuung bestellt wurde, dann haben die Ehegatten das Recht, Entscheidungen der Gesundheitssorge, etwa über die Medikation, über einen Krankenhausaufenthalt, über eine Operation zu treffen. Das gilt jedoch nicht auf Dauer, sondern für maximal sechs Monate.
Das neue Betreuungsrecht ist ein Recht für eine alternde Gesellschaft, so hat es Heribert Prantl in der "Süddeutschen Zeitung" formuliert. Es ist ein Recht für Menschen, die keine lautstarke Lobby haben. Das Recht will aber wahrgenommen werden, muss gekannt werden, sonst bleiben die rechtlichen Zusicherungen leere Versprechungen.
Die Forschungsschwerpunkte des 1955 in Hamburg geborenen Rechtswissenschaftlers liegen in der sozialen Gerontologie und Pflege, Zivilgesellschaft sowie Rechtstatsachenforschung. Er gilt als einer der wichtigsten Sozialexperten Deutschlands. Unter anderem brachte er seine Expertise ein als Mitglied der 6. und 7. Altenberichtskommission der Bundesregierung, zudem als Vorsitzender der 2. Engagementberichts-kommission der Bundesregierung.