Eine Geschichte von Dr. Werner Kilian
Emil liebte seine Tageszeitung. Sie gehörte zu seinem Frühstück wie die Butter zum Toast. Er liebte sie noch mehr, seit sie Ratschläge abdruckte, wie man der Einöde im coronabedingten Hausarrest entfliehen kann.
„Räumen Sie Ihren Schreibtisch auf!“ hieß es vor ein paar Tagen. Emil öffnete die zwölf Schubladen und Fächer seines Schreibtischs und überschlug die vor ihm liegende Arbeit. Es galt vielleicht hunderte von Zeitungsausschnitten zu sichten, die Packen von Gratulationsbriefen zur goldenen Hochzeit erneut zu lesen – man konnte sie nicht einfach alle wegwerfen, obwohl in allen die gleichen Sätze standen. Warum sollte er die erregte Korrespondenz mit seinem Steuerberater wieder in die Hand nehmen oder die vielen Arztrechnungen, die Geburts- und Heiratsanzeigen seiner Nichten und Neffen? Nein, Emil schloss die Schubladen. Dafür würde er Monate brauchen. Bis dahin wäre der Coronaspuk ohnehin vorbei, dachte Emil.
Am nächsten Tag las er: „Räumen Sie Ihre Sockenschublade auf!“ Das schien ihm ein viel besserer Vorschlag zu sein, ein angemessener Zeitvertreib für seinen leider nur embryonalen Aktionsdrang. Seine Socken lagen alle in der untersten Schublade seines Kleiderschranks. Damit würde seine Rückenmuskulatur erheblich beansprucht. Dem ewig maulenden Physiotherapeuten würde das bestimmt gefallen. Also, gebückt und ran an die Socken!
Da lagen zwei Dutzend ineinander verknäuelter Sockenpaare, alle blau, dunkelblau oder schwarz. Außerdem lagen da vier einzelne Socken. Natürlich war es die erste Aufgabe, sie wieder zusammen zu führen, sie wieder zum Paar werden zu lassen, das sie dereinst waren. Emil legte die vier Socken auf den Tisch und untersuchte sie gründlich. Alle waren in irgendeiner Weise blau, aber nur einer trug einen Firmennamen, ein anderer trug den verblassten Aufdruck „made in China“. Zu diesen beiden würde man leicht die zugehörigen Partner finden. Also konnte sich Emil zuerst einer anderen, vor-dringlicheren Aufgabe zuwenden. Die chinesische Socke hatte ein Loch. Dieses Loch war nicht einem Qualitätsmangel zuzuschreiben, wie sich der um die deutsch-chinesischen Beziehungen besorgte Emil zusicherte, sondern es war offensichtlich von dem Nagel seines dicken Zehs gebohrt worden, weil er wieder einmal den Termin für die Fußpflegerin zu lange verzögert hatte.
Wo war das Nähzeug? Richtig, im Kulturbeutel fand sich ein Nähset aus dem Hotel Excelsior. Zwei Nähnadeln und ein paar Knäuel verschiedenfarbiger Garne. Blau war nicht dabei. Also entschloss er sich, die schwarze Nähseide zu nehmen. Er feuchtete das Ende an und versuchte, es durch die unsinnig enge Öse einzufädeln. Zweimal, fünfmal, zehnmal. Es gelang ihm nicht. Wenn die Optikerläden wieder aufmachen, müsste er nachprüfen lassen, ob seine anscheinend verminderte Sehschärfe eine neue Brille erforderte. Bis dahin wollte er nach der Visitenkarte der netten Verkäuferin suchen, die ihm beim letzten Besuch hauchzart die Ohrläppchen gestreichelt hatte. Aber die Visitenkarte musste in einer der unersättlichen Schreibtischschubladen verschluckt worden sein. Statt der Visitenkarte fand er die Fahrradkarte mit den Wanderwegen des Ostseebades, in dem auch das Hotel Excelsior lag. Emil faltete die Karte auseinander und fuhr mit dem Finger die Radwege von damals nach. Erstaunlich, wieviel Energie er damals noch hatte.
Draußen dunkelte es langsam. Wenn es ihm noch gelänge, den Faden einzufädeln, würde er nicht mehr genügend Licht haben, um das chinesische Loch sachgerecht zuzustopfen. Überhaupt konnte er nicht anfangen zu stopfen, bevor er nicht ein Stopfei gefunden und in den Socken geschoben hatte. Aber was würde ihm ein simples Stopfei nützen. Es müsste ein beleuchtetes Ei sein, eines wie es Konrad Adenauer erfunden hatte.
Jetzt war Emil auf einer aufregenden Spur angelangt. Erinnerte er sich richtig, dass Adenauer ein beleuchtetes Stopfei erfunden hatte? Er ging zu seinen Büchern und nahm eine dickleibige Adenauer-Biographie aus dem Regal. „Adenauer als Erfinder“ war ein Kapitel überschrieben. Ja, da stand es. Adenauer, der von den Nazis entlassene Kölner Oberbürgermeister, meldete 1938 seine Erfindung, das „batteriebetriebene Stopfei mit Innenbeleuchtung“ beim Reichspatentamt an. Sein Antrag wurde jedoch abgelehnt, weil eine derartige Stopfhilfe bereits in den USA ein Patent erhalten hätte.
Emil knurrte in sich hinein: Immer diese Amerikaner, heute schnappen sie der Berliner Polizei 200 000 Atemschutzmasken weg und damals haben sie dem armen Mann in Rhöndorf sein beleuchtetes Stopfei missgönnt. Aber im Interesse der guten deutsch-amerikanischen Beziehungen wollte er nicht lange bei diesen unfreundlichen Gedanken bleiben. Stattdessen las er weiter über Adenauers zahlreiche Erfindungen, über die Teekanne mit Heizstab, die Vorrichtung zur Verhütung des Überfahrenwerdens durch Straßenbahnen, die Bekämpfung von Schädlingen durch eine Elektrobürste, die Blendschutzbrille für Fußgänger und das Verfahren zur Stabilisierung von Borsten.
Emil war so gefangen von dieser Lektüre, dass er die Biographie nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ob dieser Adenauer wirklich den richtigen Beruf ergriffen hatte? Er räumte die vier Socken wieder in die Schublade und legte sich mit dem Buch ins Bett. Noch bevor ihm die Augen endgültig zufielen, schaute er befriedigt auf seinen Tag zurück, der ihn durch den Tipp der Tageszeitung erkennen ließ, dass er unbedingt Ordnung in seine Sockenschublade bringen müsse. Morgen …
Copyright: Dr. Werner Kilian.