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alternovum Ausgabe 3/2021

Gedanken und Erfahrungen zu Märchen

Von Dr. Gerta Weidner.

München, 14. Dezember 2021

Ich, Gerta Weidner, 95 Jahre alt und seit zwei Jahren wohnhaft im KWA-Wohnstift Georg-Brauchle-Haus, leiste der Aufforderung gerne Folge, über meine Kindheitserfahrungen und –erinnerungen mit Märchen zu erzählen. 

Natürlich gab es auch in meinem Elternhaus den dicken Band von Grimms Märchen; nicht mehr druckfrisch, sondern ziemlich mitgenommen, mit Spuren von offensichtlich häufigem Gebrauch früherer Leser. 

Und natürlich wurde dem Kleinkind häufig vorgelesen, meist von der Mutter. Wenn das Kind gefragt wurde, welches Märchen es hören wollte, so lautete die stereotype Antwort: „Der Frieder und das Katherlieschen“. Darin gab es an keiner Stelle Schilderungen von grausamen, ängstigenden Begebenheiten, im Haus der Großmutter herrschte Harmonie, kurz gesagt: ein heile Welt.

Zu meinem gestörten Verhältnis zu Märchen hat möglicherweise der Besuch des Märchenfilms „Schneewittchen“ im Alter von ungefähr vier Jahren geführt. Laut schluchzend und immer wieder sagend: „Das Schneewittchen ist gestorben! Das Schneewittchen ist gestorben!“, musste meine Mutter mit mir die Kinovorstellung verlassen. Hätte ich bis zum Ende ausgehalten, so hätte ich freilich den glücklichen Ausgang, das „happy end“ der Geschichte erfahren.

Etliche Jahre später, im Lesealter schon, begann ich mit Freude und Ausdauer tschechische Märchen, die als Heftchen in Postkartengröße verschiedenen Lebensmitteln beigegeben waren, zu lesen und zu sammeln. Soweit ich mich erinnere, waren das keine klassischen, überlieferten Märchen, sondern Erzählungen.

Überlieferte tschechische Märchen, übertragen vom tschechischen Schriftsteller Karl Jaromir Erben, besaß ich in zwei wunderbar im Jugendstil illustrierten Bänden. Ich habe sie gerne gelesen und bedauere es, mich davon getrennt zu haben – allerdings an tschechische Freunde, die sie zu schätzen wissen.

Bald werden auch die Restbestände meiner ganzen, liebevoll zusammengetragenen Bibliothek ihren Besitzer wechseln müssen. Ich hoffe, dass sie die gleiche Wertschätzung finden, die ich für sie hege. 

Dr. Gerta Weidner
 

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