Ein Reisebericht von Dr. Ursula Wachtel.
Von den neunzehnhundert-achtziger Jahren an bis zum Beginn unseres Jahrhunderts hatte ich mehrfach Gelegenheit, diese faszinierende Stadt zu besuchen und außerdem das Glück, viele interessante Menschen kennenzulernen. Jetzt ist es wieder still geworden um Hongkong, während uns vor nicht allzu langer Zeit jeden Abend die Fernsehbilder mit großen Demonstrationen, Auseinandersetzungen mit der Polizei und Straßenschlachten ins Wohnzimmer kamen. Wie so oft bei derartigen Ereignissen, versagen unsere Medien mit fundierten Hintergrundinformationen. Was waren die Gründe für diese Protestwelle?
In den Jahren 1842/1843 wurde Hongkong britische Kronkolonie und im Laufe des 19. Jahrhunderts mehrfach territorial erweitert. Aufgrund eines britisch-chinesischen Vertrags wurde im Jahr 1997 das gesamte Territorium an die Volksrepublik China zurückgegeben, allerdings mit der vertraglich abgesicherten Vereinbarung, dass die demokratischen Grundrechte der Bevölkerung noch auf Jahrzehnte erhalten bleiben. Daraus ergibt sich der Konflikt: Die Führung in Peking will so schnell wie möglich diese sogenannte „Sonderverwaltungszone“ unter ihre Kontrolle bringen und nicht noch bis in die 2040er Jahre warten müssen. Aber wer tauscht schon freiwillig eine demokratische Grundordnung gegen eine Diktatur? Der Konflikt zwischen der Bevölkerung und der Führung in Peking wird weitergehen, wie lange noch? Niemand weiß es.
Wenn ich auf den Reisen mal eine Stunde Zeit für mich hatte, wanderte ich am liebsten vom Viktoria Peak hinunter nach Kowloon. Der Blick ging über das Gewirr der Hochhäuser, Wohnsilos über den quirligen Hafen zur Skyline von Hongkong und ganz im Hintergrund zu einigen grünen Hügeln. Nach einer Weile tauchte eine schmale steile Treppe auf, die hinunter und mittenhinein in die Reste eines alten chinesischen Wohnviertels führte. Zwei schmale Gassen mit ebenerdigen Häusern waren noch geblieben, umklammert von einer breiten und verkehrsreichen Straße. Kinder spielten laut und fröhlich auf der Straße, ein alter Mann plagte sich mit einem an Lasten überladenen Fahrrad ab, Frauen gingen ihrer hauswirtschaftlichen Arbeit nach. Manchmal öffnete sich eine Tür und gab den Blick frei auf die bescheidene Möblierung der Räume. Trotzdem wirkte dieses kleine Areal nicht ärmlich, sondern strahlte Ruhe und eine gewisse Würde aus. Ich wurde neugierig beäugt und freundlich gegrüßt.
An der Ecke, an der eine der beiden Gassen auf die breite Straße stieß, lockte eine große bunte Tür mit feuerspeienden Drachen, aus der der Duft von Weihrauch strömte, geöffnet zu werden. Ich stand in einem winzigen Tempel, der von einer Buddha-Figur beherrscht wurde. Davor kniete eine junge Frau, die offensichtlich geweint hatte. Wie oft hatte ich solche Szenen gesehen – in vielen Ländern und unabhängig von Kultur und Religion – in der Hoffnung auf überirdische Hilfe in einer verzweifelten Situation.
Ob es dieses kleine Stück China noch gibt? Wohl kaum. Überall werden die alten Wohnviertel abgerissen, die Menschen vertrieben für den Bau seelenloser Wohnsilos. Zuverlässigen Daten zufolge stehen dann etwa 20% aller Wohnungen leer, weil viele chinesische Familien die Mieten gar nicht aufbringen können.
Ging man die breite Straße weiter, erreichte man einen kleinen Park – eine Oase der Stille inmitten des Verkehrs. Ich hatte ihn zum ersten Mal entdeckt während der Blütezeit der Kapokbäume mit ihren leuchtend roten Blüten. Was für ein Anblick, dazu eine subtropische Vegetation. Weiter ging es zur Anlegestelle zurück nach Hongkong. Hunderte von Menschen standen herum und starrten fasziniert auf das Wasser: Eine große Dschunke (altes chinesisches Segelboot) mit ihren roten vom Wind geblähten Segeln bahnte sich vor der Skyline von Hongkong ihren Weg durch das Gewimmel auf dem Wasser. Sogar für die Bewohner von Hongkong ein unvergesslicher Anblick!
Es gab inmitten der Stadt auch noch einen großen Tempelbezirk, an dessen Rand in kleinen Buden Wahrsager ihre obskuren Dienste anboten. Von besonderer Faszination waren die Märkte, für uns als Europäer aber auch fremd und manchmal abstoßend im Hinblick auf den Umgang mit Tieren: Fische und Seesterne, die sich bei Hitze und Schwüle zu Tode quälten, Geflügel in winzigen Käfigen, Schlangen in Gläsern. In diesen Tagen geht meine Erinnerung oft zurück an einen Markt dicht an der damaligen Grenze zu China hinter einem Stacheldrahtzaun: Hätte das Coronavirus auch hier überspringen können, viele Jahre vor der heutigen Pandemie?