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alternovum Ausgabe 2/2020

Kolumne: Gib jedem seinen eigenen Tod?

Von Dr. Harald Parigger.

Amerang, 31. Mai 2020

Zehn Jahre ist es jetzt her, da habe ich binnen einer Woche zwei enge Freunde verloren. Der eine, ein optimistischer Tatmensch, erlag einem bösartigen Tumor, gegen den er sich jahrelang mit Mut und Leidenschaft erfolgreich gewehrt hatte. Der andere, ein nachdenklicher und introvertierter Intellektueller, starb von einem Augenblick zum anderen an einem geplatzten Aneurysma im Gehirn. 

Als sich der erste Schock gelegt und nach Tagen heftiger, vorwurfsvoller Trauer allmählich sich die dauerhafte, bis in die Gegenwart schmerzliche Erkenntnis eingestellt hatte, dass die beiden unwiederbringlich fort waren aus meinem Leben, widerfuhr mir das, was in solchen Situationen, glaube ich, vielen Menschen widerfährt:  Mir kamen Gedanken an mein eigenes Ende: Wie würde es wohl sein? Würde der Tod über Nacht kommen? Sanft oder als Moment des Entsetzens? Würde er sich jahrelang hinziehen? Wäre wie ein qualvoller Gang durch eine wasserlose Wüste oder wie eine ruhige, zufriedene Fahrt zum Ziel? Würde mich ein unbekanntes Virus schnell dahinraffen oder vielleicht ein betrunkener Autofahrer?

Natürlich wusste ich keine Antwort auf diese Fragen, niemand weiß sie, denn niemand kann in die Zukunft schauen. Aber dennoch sind sie immer wieder da. Und andere kommen hinzu: Wie würde ich dem nahenden Tod begegnen? Ihn fürchten, hassen oder begrüßen, ihn zu verzögern suchen oder zu beschleunigen? Ihn einfach müde oder leidenschaftslos hinnehmen? Keiner kann diesen Fragen ausweichen, denn jeder weiß ja um die Unabweislichkeit des eigenen Todes.

Jetzt, da sich der Todestag meiner Freunde zum zehnten Mal jährt und überdies Monate hinter und vielleicht vor uns liegen, die uns mit besonderer Intensität an die Möglichkeit des nahen Todes mahnen, kommen mir die Gedanken von damals wieder häufig in den Sinn. Bei Rainer Maria Rilke fand ich in seiner Gedichtsammlung „Das Stundenbuch“ folgende Verse: 

O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not.

Rilke gibt diesen Versen die Form eines Gebets (ein Stundenbuch orientiert sich am klösterlichen Stundengebet). Davon einmal abgesehen, lese ich daraus,  dass das Sterben vielleicht ein letztes Mal unser Leben widerspiegeln, gleichsam eine Quintessenz unseres Lebens darstellen könnte.

Was bedeutet das konkret? Mir fiel der reiche Mann ein, der sich nach einem Leben als Mitglied des internationalen Jetsets eine Kugel durch den Kopf schoss, weil er nicht ertragen konnte, dass er alt wurde. Der leichtsinnige junge Motorradfahrer aus meinem Dorf, der gegen eine Leitplanke raste, der Freeclimber, der bei einem besonders aberwitzigen Kletterabenteuer in den Tod stürzte. Auch der alte Bauer, der nach vielen Jahrzehnten voller Arbeit einfach des Lebens müde war und sich zum Sterben legte, oder die weltberühmte Operndiva, die mit 90 Jahren lebenssatt die Augen schloss. Wie sehr sind bei ihnen allen Leben und Sterben, Wesen und Tod miteinander verknüpft! Ist das nicht, auf tausend verschiedene Weisen, bei uns allen so? Im „Stundenbuch“ findet sich auch die folgende Strophe:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Vielleicht liegt in diesen Worten eine mögliche Antwort auf die vielen Fragen zum Sterben und zum Tod. Sie helfen mir dabei, immer dann, wenn ich an den Tod denke, vor allem an das Leben zu denken. So lange es währt, wächst es auch, bringt neue Erfahrungen, neue Not, aber auch neuen Sinn; keiner weiß, ob er das Feld seiner Lebenskreise, das ihm sein Wesen eröffnet, ganz ausschöpfen, all das erfüllen kann, was in seinen Möglichkeiten liegt. Aber er kann es doch versuchen und mit Leidenschaft danach streben.

Meine beiden Freunde haben das Leben verloren, ohne diesen letzten Ring zu vollbringen, und auch das ist es, was meine Trauer um sie bis heute so groß macht. Versucht aber haben sie es, und das hat ihr Leben lebenswert gemacht, bis zum letzten Augenblick.

Ich glaube, es lindert die Furcht vor dem Tod, wenn man ihn so begreifen will: als Vollendung des eigenen Lebens. Und wenn man versucht, dies Leben bis zum letzten der wachsenden Ringe zu vollbringen, dann nimmt das dem Tod einen Teil seiner Bitterkeit. Denn dann war es ein gutes Leben – und ist ein eigener Tod.

 

Hinweis der Redaktion: Das Copyright zu diesem Beitrag verbleibt bei Dr. Harald Parigger.

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