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alternovum Ausgabe 2/2021

Kolumne: Von alten und neuen Märchen

Von Dr. Harald Parigger.

Amerang, 06. Dezember 2021

Warum eigentlich, habe ich mich gefragt, sind die doch eher einfach gestrickten, oft stereotypen altertümlichen Volksmärchen, die Geschichten von Frau Holle, Rumpelstilzchen, der Gänsemagd oder dem Froschkönig, so sehr in unserer Erzähltradition verankert, dass sie auch im digitalen Zeitalter noch beinahe jedes Kind kennt und jeder Erwachsene ohnehin? Was macht Märchen so langlebig? Und woran liegt es, dass wir auch heute noch so süchtig nach Märchen sind, dass wir uns neben den alten laufend neue erzählen lassen?

Ich glaube, dass es dafür zwei Gründe gibt.

Der erste besteht darin, dass die Welt der Menschen so war, wie sie immer noch ist, nämlich oft unfassbar ungerecht, im Großen wie im Kleinen. Wie oft kam es vor in der Zeit, in der viele Märchen entstanden sind, dass Tyrannen nicht bestraft, Zerstörung und Verwüstung nicht wiedergutgemacht, Verbrechen nicht gesühnt worden sind! Wie oft, aufs Ganze gesehen, hat Ausbeutung über Freigiebigkeit triumphiert, Grausamkeit über Mitleid, Rücksichtslosigkeit über Verständnis, Selbstsucht über Barmherzigkeit! So mussten die, die nichts oder nur wenig hatten, all das ertragen: Hunger, Abgaben und Frondienste, Standesdünkel, harte, maßlose Strafen. Nur eines widerfuhr ihnen selten: Gerechtigkeit.

Und wenn wir uns umsehen, müssen wir feststellen, dass sich daran wenig geändert hat, auch wenn wir in einem Teil der Welt leben dürfen, der heute von den schlimmsten Ungerechtigkeiten verschont bleibt – was beileibe nicht immer so war.

Ist es da nicht wunderbar, vom tapferen Schneiderlein zu lesen oder vom gestiefelten Kater, wie sie die Großen der Welt an der Nase herumführen? Zu hören, wie der ewige Versager, der angeblich Dumme, der auszog, das Fürchten zu lernen, am Ende das ganz große Los zieht? Wie der Knüppel aus dem Sack dem Betrüger den verdienten Lohn auszahlt?
Märchen waren immer auch die Geschichten der Benachteiligten und Unterdrückten, der kleinen Leute, die sich mit den zahllosen Problemen ihres Lebens herumschlagen mussten. Märchen spendeten ihnen zu allen Zeiten Trost, denn in ihnen waren es oft die Kleinen, Schwachen, Jungen, Armen, Wehrlosen, die den scheinbar Überlegenen ein Schnippchen schlugen und am Ende die Sieger waren.

Und wer wollte abstreiten, dass die Illusion, der Ungerechtigkeit der Menschen, der Weltläufte und des Schicksals ein Schnippchen schlagen zu können, auch im 21. Jahrhundert etwas Verlockendes hat!

Der zweite Grund für die Beliebtheit von Märchen ist der, dass sie uns, wann immer wir deren bedürfen, kleine Fluchten ermöglichen.

Eine der traurigsten Geschichten, die ich kenne, stammt von dem bedeutenden Schriftsteller Günter Kunert. Sie umfasst nur wenige Zeilen und geht so: „Dahinfahren. Er wurde dafür bezahlt, daß er einen eisernen, mit häßlich-gelber Farbe gestrichenen Wagen durch die Straßen der Stadt lenkte, die eisernen Räder in eisernen Schienen, kreuz und quer durch die rauchbedeckten Quartiere. Berührte sein Fuß den entsprechenden Hebel, klingelte eine Glocke: das geschah unzählige Male. Zwischen den Häusern ging er, die in Nacht versanken, begleitet vom Aufblinken der Lichtvierecke an den Fassaden, ging er gemächlich durch die Dämmerung nach Hause. Eine Frau erwartete ihn dort, später noch Kinder, dann Einsamkeit und leere Zimmer und Staub und zuletzt Tod.“

War und ist es nicht so, dass viele Menschen vom Alltagstrott, von der täglichen eintönigen Plackerei zermürbt und desillusioniert sind? Sich nach dem Sinn des Lebens fragen, ohne befriedigende Antworten zu finden?

In früheren Zeiten waren es Märchen wie das vom Aschenputtel oder den Sieben Schwänen, die den Menschen erlaubten, für eine Weile aus dem Alltag, seinen Sorgen, seiner Beengtheit und der großen Frage nach seinem Sinn in die wunderbare Welt einzutauchen, in der die steinigen Pfade kurz und die Zeiten des Glücks unendlich zu sein schienen. Heute sind noch viele andere dazugekommen, von der Heftchenstory bis zum Roman, vom abendfüllenden Kinofilm bis zur Netflix-Serie. In ihnen geht es immer noch um die ewige Liebe, das immerwährende Glück, den ganz großen Reichtum – immer noch um Märchen, die mit dem wirklichen Leben nicht viel zu tun haben, aber uns vergessen machen, was wir so sehr fürchten: die eisernen Räder in eisernen Schienen, Einsamkeit und leere Zimmer und Staub und zuletzt Tod.


Hinweis der Redaktion: Das Copyright zu diesem Beitrag verbleibt bei Dr. Harald Parigger.

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