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alternovum Ausgabe 1/2020

Kolumne: Noch mal zwanzig?

Von Dr. Harald Parigger.

Amerang, 29. März 2020

Neulich war ich zur Feier eines siebzigsten Geburtstags eingeladen. Als die Tischreden und Würdigungen der Jubilarin vorüber, als Vorspeisen und Hauptgang serviert und verzehrt waren, erhoben sich zwei Herren, beide etwa im Alter des Geburtstagskinds, und schritten zum bereitstehenden Klavier. Mir wurde ein wenig mulmig zumute; planten die Herrschaften womöglich, mit vollem Magen ein Lied von Schubert oder Brahms zu verunstalten?

Meine Bedenken waren gottlob überflüssig, denn gleich darauf erklang ein Stück, dem man auch nach dem reichlichen Genuss von Sauerbraten und Knödeln nicht allzu viel antun konnte:

"Sitzt der Mensch beim Weine,
werden alle seine
längst vergang’nen Wünsche wach …"

Und wenig später kam der Refrain, den jeder kennt, der die 60 überschritten hat:

"Man müsste noch mal zwanzig sein
und so verliebt, wie damals
und irgendwo am Wiesenrain
vergessen die Zeit …"

Natürlich sangen ihn alle mit, mich eingeschlossen; etliche zerdrückten sogar ein Tränchen vor Rührung, bevor sie sich ihrem Nachtisch, einer Mousse au Chocolat, widmeten. Während ich mir den ersten Löffel Mousse auf der Zunge zergehen ließ, wanderten meine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Als ich zwanzig war – mein Gott, war das lang her! – hatte gerade mein erstes Semester begonnen. Meine Studentenbude war ungefähr 15 Quadratmeter groß. Die Möblierung bestand aus einem alten Sofa, einem Schreibtisch, der ein bisschen wackelte, drei Matratzen, einem Tisch, einem Stuhl, einem Waschbecken und einem Bücherregal aus Brettern und Ziegelsteinen. Heizen konnte man mit einem großen Elektro-Ofen, den ich aber nur selten anmachte, weil … nun ja, mein Budget war nicht allzu groß. Toilette, Dusche und Kühlschrank befanden sich auf dem Gang, für alle Bewohner und Bewohnerinnen. In welchem Zustand sie sich befanden, hing davon ab, wer sich freiwillig zum Saubermachen entschloss. Das Fahrrad, mit dem ich herumkurvte, wog gefühlt eine halbe Tonne und hatte keine Gangschaltung. Und am Wochenende ging ich kellnern, um meinen schmalen Wechsel aufzubessern.

Unwillkürlich musste ich lachen über meine düsteren Erinnerungen. Ganz so schlimm war es ja nun wirklich nicht gewesen, vielmehr hatte das Leben damals auch großartige Seiten. Niemand machte mir Vorschriften. Wenn ich morgens nicht aus den Federn wollte, dann blieb ich eben liegen. Wenn ich abends nicht vor meinen Büchern sitzen mochte (damals saß man noch nicht vor dem Bildschirm), dann war das kein Problem: In meiner Stammkneipe gab es einen süffigen Hausschoppen, für den reichte das Geld allemal. Stand die Wirtin persönlich hinter dem Tresen, genügte es sogar, nur ein Achtel zu bestellen – sie schenkte so gut ein, dass zum Viertel gerade ein Fingerbreit fehlte. Und wenn man verliebt war, am Wiesenrain oder sonst wo, konnte man tatsächlich die Zeit vergessen.

Trotzdem – die reine Seligkeit war es nicht gewesen, zwanzig zu sein. Und außerdem: Selbst wenn man die Uhr zurückdrehen könnte, sie bliebe deshalb noch lange nicht stehen. Man würde also noch einmal wieder 30, 40, 50 werden und müsste so sein ganzes Leben ein zweites Mal bestehen: Und zwar nicht nur die Jubelfeiern und die Triumphe, die Erfolge und die Glücksmomente, die Urlaube und die Liebesabenteuer. Sondern auch Prüfungen und Ungerechtigkeiten, Ängste und Niederlagen, Einsamkeit und Enttäuschungen, Ärger im Beruf und Sorgen mit den Kindern, Krankheiten und Schmerzen, den Verlust geliebter Menschen, alles eben, was bisher das Leben ausgemacht hatte.  

Haben sich das die Leute überlegt, die so sehnsuchtsvoll seufzen: "Ach Gott, jung müsste man noch mal sein, noch einmal zwanzig"? Mir scheint, sie machen sich etwas vor: Sie halten den Film ihrer Erinnerungen nur an den idyllischen Szenen an: Nur dort, wo sie an einem warmen Augustabend händchenhaltend und verliebt am Wiesenrain saßen, nicht dort, wo sie an einem eisigen Dezembermorgen halberfroren am Wiesenrain auf den verspäteten Bus warteten.

So ist es nun einmal, das Leben. Es besteht aus Freiheit und Zwang, aus Krankheit und Gesundheit, aus Erfolgen und Niederlagen, aus Freude und Trauer. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Ich war mir auf dieser Geburtstagsfeier ziemlich sicher: Ich wollte nicht noch einmal zwanzig sein. Verliebt sein kann man auch mit neunzig, und den Wiesenrain gibt’s auch noch. Also, dachte ich mir, ein Hoch auf die Gegenwart – und auf die wirklich köstliche Mousse au Chocolat!

 

Hinweis der Redaktion: Das Copyright zu diesem Beitrag verbleibt bei Dr. Harald Parigger.

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