Von Dr. Harald Parigger.
Als junger Historiker habe ich 1986 einen von mehreren Aufsätzen über die Verfolgung der angeblichen „Hexen“ in Franken geschrieben. Das Thema bewegte mich sehr, deshalb erhob ich darin die Forderung nach der „mitfühlenden“ Geschichtsschreibung: Wahre historische Erkenntnis bedürfe auch der „Betroffenheit“ über den Forschungsgegenstand. Man kann darüber streiten, darum aber soll es hier nicht gehen.
Das Wort „Betroffenheit“, damals von mir noch ganz unbefangen verwendet, hatte jedoch das Pech, Bestandteil des Politsprechs zu werden. Seitdem wird es immer dann aus dem Wortschatzboudoir hervorgeholt, wenn es tunlich erscheint, sich mit dem Mäntelchen der „Betroffenheit“ sympathisch und bürgernah zu umhüllen.
Der kraftvolle und schöne Begriff, der eigentlich Empathie und Mitgefühl vermitteln soll, ist zur leeren Floskel heruntergekommen, am schlimmsten in der Phrase: „Das macht mich ein Stück weit betroffen“ – wie weit? 30 cm? Oder doch nur 10? Noch heute würde ich für eine mitfühlende Geschichtsschreibung plädieren. Aber das Wort „Betroffenheit“ kann ich nicht mehr hören.
Einem anderen, gewichtigen Wort widerfährt gerade ein ähnliches Schicksal: Es ist das Wort „Nachhaltigkeit“. Der Schöpfer der dahintersteckenden Idee war der kursächsische Bergrat und Forstwirtschaftler Hans Carl von Carlowitz (1645-1714). Seine ebenso einleuchtende wie unumstößliche Erkenntnis lässt sich in zwei Sätze fassen:
1. Der Wald ist für das Wohlergehen der Menschen und für eine funktionierende Wirtschaft unersetzlich.
2. Deshalb darf man nur so viel Holz schlagen, wie regelmäßig wieder nachwachsen kann, sonst geht diese lebenswichtige Ressource verloren.
Das ist Nachhaltigkeit, jeder wird das einsehen. Aber wer von uns macht sich schon klar, dass das, was hier so scheinbar selbstverständlich für den Wald formuliert ist, ebenso für unseren gesamten Planeten gilt, und dass wir, dass große Teile der Menschheit seit vielen Jahren gegen diese überlebenswichtige Regel verstoßen?
Ein Forstwissenschaftler unserer Tage, Dr. Joachim Hamberger, hat das so formuliert: „Die heute Lebenden haben nicht das Recht, die Umwelt auf Kosten der Menschen in anderen Gebieten und zu Lasten künftiger Generationen zu nutzen.“ Damit sagt er nichts anderes, als dass wir die Pflicht zur Nachhaltigkeit in allen Bereichen haben, weil wir sonst die Erde als einen in Zukunft noch für Pflanzen, Tiere und Menschen bewohnbaren Ort ruinieren. Wer also nicht nachhaltig lebt, setzt die Zukunft unserer Kinder und ihrer Umwelt aufs Spiel – und das ist kein Untergangsszenario vollkorniger Fortschrittsfeinde, sondern die bittere Wahrheit.
Ein überlebenswichtiger Begriff also. Ist es da nicht unfassbar, dass er bereits wieder zum Modewort wird, der in jede Sonntagsrede gepackt wird, weil er so schön politisch korrekt ist? Der so – wie die Betroffenheit – an Gewicht, an „Nachhaltigkeit“ verliert und zum bloßen Lippenbekenntnis verkommt?
Neulich habe ich sie wahrhaftig wieder gehört, diese abscheuliche Floskel: „Wir müssen hier ein Stück weit nachhaltig denken.“
Ein Stück weit nachhaltig – das geht gar nicht.
Höchstens noch ein Stück weit.
Dann ist nämlich Schluss.