Märchenfee Violetta weckt Erinnerungen an die Kindheit. – Ein Beitrag von Jörg Peter Urbach.
"Dornröschen war ein schönes Kind, schönes Kind …". Leise und verhalten klingt der Gesang einer Frauenstimme durch den Raum. Es ist wieder Märchenstunde im Wohnbereich Pflege des Hauses Loretto im KWA Parkstift Rosenau. Die Märchenfee Violetta ist dort zum Stelldichein und erfreut mit ihrer szenischen Lesung die erschienenen Bewohner. Obwohl die Fee Violetta sonst im Lande Merlins zu Hause ist, hat sie keine weite Anreise. Denn bevor sie sich in die Märchenfee verwandelt, geht sie nur die paar Schritte aus dem Wohnstift, wo sie seit gut einem Jahr lebt, hinüber in die stationäre Pflege.
Im KWA Parkstift Rosenau ist die Stiftsbewohnerin nur als Violetta bekannt. "Ich habe mehr als vierzig Jahre lang lila Kleidung getragen, so wurde ich Violetta", verrät die Märchenfee. Heute sind auch ihre Haare lila. Als sie von Pflegedienstleiterin Melanie Kirchgäßner gefragt wurde, ob sie nicht vielleicht im Haus Loretto Märchen vorlesen würde, hat sie spontan zugesagt. Und ist seitdem nicht mehr wegzudenken. Was anfangs alle drei Monate stattfinden sollte, ist heute ein wöchentliches Ereignis, das keiner mehr missen möchte. Weder Violetta noch die Bewohner oder die Pflegekräfte.
"Ich hatte vorher noch nie etwas Vergleichbares gemacht und am Anfang war ich auch recht nervös", erzählt Violetta. "Doch das hat sich rasch gegeben. Mir wurde klar, dass ich jedes Mal individuell auf meine Zuhörer eingehen muss." Melanie Kirchgäßner ergänzt: "Die meisten Bewohner, die zur Märchenstunde kommen, haben eine demenzielle Veränderung und einige darüber hinaus ein herausforderndes Verhalten entwickelt, mit dem man als Nicht-Pflegender umgehen lernen muss. Aber Violetta hat schnell Beziehungen zu ihren Zuhörern aufgebaut."
Ein fester Rhythmus ist enorm wichtig, denn die Bewohner brauchen einen strukturierten Alltag. Hierbei unterstützt Violetta tatkräftig. Sie holt ihre Zuhörer vor der Märchenstunde persönlich ab und begleitet sie hinterher wieder auf die Stockwerke. "So wird es für alle eine schöne, runde Sache", sagt die Vorleserin.
Bei ihrem Auftritt trägt Violetta, die eigentlich Sigrid Landgraf heißt, natürlich ein violettes Kostüm mit Spitzhut und bringt ihr schönes Märchenbuch mit. "Ich kann zwar fast alle Märchen auswendig, aber ganz frei zu erzählen, da braucht es noch ein wenig Zeit. Ich singe, spiele und gebe hier ganz viel Energie, aber meine Zuhörer geben mir alles wieder zurück. Das ist traumhaft", schwärmt die Märchenfee. Und welche Märchen werden vorgelesen? "Ich konzentriere mich ganz auf die Gebrüder Grimm. Die kennen alle aus ihrer Kindheit."
Warum Märchen und nicht Gedichte oder kurze Geschichten? "Menschen mit demenziellen Veränderungen kann man mit Märchen sehr gut erreichen, weil diese im Langzeitgedächtnis verankert sind", erläutert Kirchgäßner. "Man kennt Märchen aus der Kindheit, sie wecken Erinnerungen an die Eltern, und Eltern vermitteln Sicherheit und Geborgenheit. Das erreicht man mit Gedichten nicht so gut." Der Pflegedienstleiterin gefällt auch, dass durch das ehrenamtliche Engagement der Stiftsbewohnerin eine ganz neue Verbindung zwischen Wohnstift und Haus Loretto entstanden ist. "Noch dazu entlastet es unsere Pflegenden", lobt Melanie Kirchgäßner, setzt sich genau wie die Märchenfee in den Kreis der Zuhörer und lauscht dem leisen Klang von Violettas Stimme, die nun weiter von Dornröschen erzählt …
Meine Zuhörer geben mir alles zurück. Das ist ein Traum für mich.
Sigrid Landgraf