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alternovum Ausgabe 3/2021

Märchen sind nur etwas für Kinder?

Einblicke in die Narratologie. – Eine Betrachtung von Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho.

Freiburg/Unterhaching, 06. Dezember 2021

Hinter einer so provokanten Überschrift verbirgt sich in diesem Falle sehr viel. "Viel" heißt nicht nur Lebenserfahrung, "viel" meint hier auch eine mehr als zweihundertjährige Forschungsgeschichte, von deren Existenz eine breitere Öffentlichkeit eher wenig wahrgenommen hat. Sie hat sich – je nach Zeitgeist – in fast allen Ländern der Welt auf sehr unterschiedliche Art und Weise den unterschiedlichsten Fragen gestellt, die man an die Gattungen "Märchen" und "Sage" stellen kann. Der folgende Beitrag möchte einen kleinen Einblick gewähren und gerade Erwachsene dazu anregen, sich ihren Kindheitsprägungen mit neuer Sichtweise zu stellen. 

Abgrenzung zu Sagen
(Thema Wahrheitsgehalt)

„Ach, wie liebe ich doch unsere alten Märchen", rief eine Dame aus Hameln, als sie ins dortige Rattenfängermuseum zu einem Vortrag eingeladen wurde, und wie enttäuscht war sie dann, als sie lernen musste, dass der "Rattenfänger von Hameln" kein Märchen, sondern eine Sage ist. Wie viele andere gebildete Menschen auch, begann sie nun, über die Unterschiede von Sage und Märchen nachzudenken. Schnell fand sie heraus, dass die Sage mit einer konkreten Orts- und Zeitangabe beginnt, dass sie außerdem nicht wie das Märchen gut, sondern schlecht endet und überdies möglicherweise einen historischen Kern haben könnte.

Wichtig ist auch, dass Sagen „Angstgeschichten" – Märchen dagegen „Wunscherfüllungsgeschichten" sind. Beim Rattenfänger sieht der Beginn, das sog. Incipit, folgendermaßen aus: „Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, bunten Tuch an, weshalben er Bundting soll geheißen haben, und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien..."

Wir wissen alle, wie das Drama weitergeht und dass es schlecht endet. Und es sind nicht nur wir Deutschen, die das wissen. Unter dem Titel „The Pied Piper of Hamelin" machte die Geschichte spätestens im 19. Jahrhundert Weltkarriere, erst im englischen, dann im übrigen Sprachraum. Sie ist in mehr als 30 Sprachen übersetzt, erscheint in tausenden von Schulbüchern und gilt als die bekannteste Sage der Welt. Und wer nun meint, sie sei ja doch wohl von den Märchenbrüdern Jacob und Wilhelm Grimm, der hat durchaus recht. Allerdings nahmen die beiden Gelehrten diese dramatische Geschichte eben gerade nicht in ihre Märchen- sondern in ihre viel unbekanntere Sagensammlung auf. 
 
Bringt man die Begriffe „Sage“ und „Märchen“ zusammen, entsteht sofort die Gedankenverbindung „Brüder Grimm“. Und tatsächlich sind diese beiden ersten wirklich markanten Märchensammler auch die eigentlichen Begründer der deutschen Philologie und auch der Erzählforschung oder Folkloristik, die lange Zeit und bis heute Märchen und auch Sagen als einen ihrer Hauptuntersuchungsgegenstände wählte. Märchen selbst, auch die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten oder nach älteren schriftlichen Quellen in den Kinder- und Hausmärchen (KHM) veröffentlichten, gründen jedoch auf einer bereits länger bestehenden mündlichen Erzählüberlieferung. 

Was heute kaum noch ein Abiturient weiß: Die Grimms haben also nicht gedichtet, sondern als Wissenschaftler gesammelt, auch wenn sie am Ende poetische Bearbeitungen lieferten. Alle ihre Geschichten haben keine Autoren, es sind anonyme Dichtungen ohne Dichter. Märchen und Sagen sind ferner teilweise sehr alt, sie gleichen in vielen Teilen den Mythen, sie haben etliche Entsprechungen in der Bibel und bis heute weiß niemand wirklich, wo sie herkommen und wer sie erfunden hat. Gerade diese Umstände machen Volksmärchen und Volkssagen so spannend – und gerade diese Fragen faszinieren natürlich nicht die Kinder, sondern uns Erwachsene, und zwar weltweit!

Wie sieht es in Deutschland aus?

Das Wort „Märchen“, eine Verkleinerungsform zu „Mär“, bedeutet im Althochdeutschen, also etwa bis um die Mitte des 12. Jahrhunderts: Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht. Sehr früh schon unterlag es einer Bedeutungsverschlechterung in Richtung "Ammenmärchen" und später "Lüge", und ganze Generationen von Wissenschaftlern haben sich den Kopf darüber zerbrochen, was es allein damit auf sich haben könnte. Sagen hielt man für wahrscheinlicher. Schließlich tritt die Sage als "fabula credibilis" ja auch mit einem gewissen Wahrheitsanspruch auf, während das Märchen, die "fabula incredibilis", das gar nicht erst will. Man weiß das sofort, wenn man nur die Eingangssätze eines Märchens hört: „In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da war einmal...", und man vergleiche damit einmal den Beginn der Rattenfängersage!

Die Grimms selber sind bei der Unterscheidung von Märchen und Sage noch nicht so gewissenhaft gewesen wie nachfolgende Spezialisten. Eher vorsichtig meinten die Brüder lediglich, die Sage sei „historischer", das Märchen dagegen „poetischer". Und so sind denn auch in ihren sogenannten „Kinder- und Hausmärchen", abgekürzt KHM, die zuerst 1812 das Licht der Welt erblickten, viele Geschichten im eigentlichen, strengeren Sinne Sagen und keine Märchen. 

Die sog. modernen Sagen, die wir als "urban legends" oder besser als "contemporary legends" bezeichnen, sind keine historischen Sagen, die man heute kaum noch aufregend findet. Es handelt sich vielmehr um Grusel- oder Gespenstergeschichten, die ehemals als sogenannte "dämonologische Sagen" gehandelt wurden und gerade heutzutage wieder Karriere machen: auch Verschwörungserzählungen zählt man inzwischen dazu. Auch diese "Narrative" (von narrare = erzählen) enden schlecht, zeugen von existentieller Angst und werden von vielen Menschen als Wahrheit, oder besser: als Realität geglaubt.

Abgrenzung zu Lügenmärchen
(Münchhausen, Trump) 

Damit sind wir schon bei der verzwickten Frage nach den Lügenmärchen. Sind also alle Märchen Lügen? Im Sprachgebrauch sieht es danach aus; wenn jemand sagt: „Erzähl mir keine Märchen", dann meint er „Lüg mich nicht an". 

Diese Sprachentwicklung hat eine interessante Geschichte: Tatsächlich gab es früher auch so etwas wie Lügen-Wettbewerbe. Der Gewinner – die Erzählenden waren meist männlich, überboten sich in absurden Erfindungen – genoss hohes soziales Ansehen und vielleicht sollte man auch den Lügenbaron Münchhausen in dieser Tradition sehen. Dass „Märchen" und „Lüge" nahe beieinander liegen, das nimmt eigentlich nicht wunder, wenn man sich überlegt, dass die sogenannten „eigentlichen Märchen", und das sind die Zaubermärchen, die man international als „wonder-" oder als „magic tales" bezeichnet, immer von etwas Übernatürlichem erzählen, von Wundern aller Art, die in der Wirklichkeit eigentlich nicht passieren. Bei Sagen ist es ähnlich, aber eben nur bei den obengenannten "dämonologischen Sagen". 

Es gibt aber noch eine dritte Gruppe: Auch unsere Legenden, unter denen wir in der deutschen Fachsprache Heiligengeschichten verstehen, berichten von Wundern, und es gibt deswegen hochinteressante Überschneidungen. Aber sind das noch „Lügen"? Oder gibt es Wunder wirklich? Man sieht, dass diese Diskurse sehr allgemeine und gleichzeitig hochphilosophische und theologisch zentrale Fragen berühren – die wiederum für Kinder völlig uninteressant sein dürften. 

Wenn wir heute im Zusammenhang mit den modernen Medien und in politischen Kontexten (etwa beim Stichwort "Trump") von „fake-news" sprechen, und wenn manche gar ein „postfaktisches Zeitalter" reklamieren, dann sind wir eigentlich wieder mitten in einer alten Debatte, die auch die volkskundliche Erzählforschung schon seit Jahrzehnten umgetrieben hat.

Einer ihrer führenden Vertreter, der Tübinger Kulturwissenschaftler H. Bausinger, hat vor einigen Jahren einen Aufsatz zum Thema „Lügenmärchen" geschrieben, der all diesen Facetten im Detail nachgeht und auch nicht davor zurückschreckt, gezielte Lügen in der Wissenschaft wie in der Medienbranche anzusprechen. In den Untersuchungen zu „Verschwörungstheorien" greift man oft auf seine Überlegungen zurück.

Seit wann gibt es Volksmärchen
und was kennzeichnet sie? 

Das größte Faszinosum ist das hohe Alter dieser Narrative, mit anderen Worten: es ist die hohe „Anciennität", die ihnen ihre „Dignität" (ihre Würde) verleiht. Dass schon die Steinzeitmenschen einander Geschichten erzählten, wird nicht bezweifelt. Aber um ganze Märchen dürfte es sich dabei wohl nicht gehandelt haben, eher um einzelne Motive, Motivstränge oder Motivcluster. Diese wiederum fügten sich immer wieder zu neuen Typen zusammen, sie „kontaminierten", wie man sagt, denn es gab ja bei dieser Mündlichkeit kein „richtig" oder „falsch", kein Copyright, keine Verbindlichkeiten, auch nicht bei den angeblich geheimen Weisheiten in manchen Kulturen.

Noch heute kann man ahnen, dass Märchen aus solchen Kontaminationen entstanden sind und manchmal sieht man es sogar noch an Doppeltiteln wie „Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich" – das waren einmal zwei verschiedene Märchen, die nun als ein einziger Märchentyp gelten. Als literarische Gattung bildeten sich Volksmärchen wohl erst im Spätmittelalter heraus, wobei die alten Stoffe und Motive bereits vorhanden waren und im 14. und 15. Jahrhundert entstand dann auch eine große Zahl von ersten verschrifteten Märchen-Sammlungen.   

Bei der Faszination durch das Alter kommt noch ein anderer Gedanke zum Tragen: Alles, was den Menschen nicht wirklich etwas bedeutet, schleift sich im Verlauf einer jahrhunderte- oder jahrtausendelangen mündlichen Überlieferung von allein ab und wird vergessen, wird zum „blinden" oder „stumpfen Motiv". Im Umkehrschluss kann man – wenn auch nur sehr vage – aus den mündlichen Überlieferungen und eben nicht aus den Artefakten der Archäologen auf die Mentalitäten längst vergangener Zeit schließen. Und so gibt es nicht wenige Märchenfans, die immer wieder gern – wenn auch oft zu leichtfertig – die Vorsilbe „ur" benutzen: uralt, Urmärchen aus Urzeiten usw.  

„Leitmärchen“,

die auf der ganzen Welt zu finden sind und über Jahrtausende hinweg weitergegeben wurden. Im Kontext eben dieser Debatten wird oft über das älteste Märchen gestritten, das wir kennen, und viele Experten verweisen dabei auf das Gilgamensch-Epos, verschriftet in der altbabylonischen Zeit zwischen 1800 bis 1595 v. Chr., aber – als sog. Etana-Mythos – wahrscheinlich bis mindestens in das 18. bis 24. Jh. v. Chr. zurückreichend.

Die Grimms selber, die eine andere Herkunftstheorie vertraten, nämlich die germanische, sahen viele Parallelen in den nordischen Mythen, die sie sehr genau kannten. So entspräche die inmitten der Waberlohe schlafende Brünhilde dem von einer Dornenhecke umgebenen schlafenden Dornröschen. Diese Theorie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von den Sanskritisten infrage gestellt: Sie hatten in Indien das Pantschatantra, ein Erziehungsbuch aus dem 2 Jh. n. Chr., gefunden und darin fast wörtlich das Märchen vom Froschkönig. Das führte zur Indientheorie, die besagt, alle unsere europäischen Zaubermärchen stammten aus Indien. 

Heute ist das Forschungsgeschichte und es gilt die Theorie der Polygenese, der Mehrfachentstehung von gleichen oder sehr ähnlichen Märchen, unabhängig von einander, auf verschiedenen Erdteilen und in verschiedenen Kulturen, manchmal sogar zu gleicher Zeit. Dieser Gedanke, man nennt ihn auch „generatio aequivoca", spielt für die Völkerverständigung eine große Rolle, denn man geht (wie die Jungianer mit ihrem "Archetyp") gegenwärtig davon aus, dass letztlich alle zutiefst menschlichen Probleme in aller Welt einander gleichen, dass also die Menschen gar nicht so unterschiedlich sind, wie man lange glaubte...  

Die Bedeutung von Wetter in Märchen 

…ist auf eigenen Tagungen zum Thema intensiv untersucht worden. Gerade bei den Volksmärchen spiegelt sich ja die Wetterabhängigkeit jener ländlichen illiteraten Schichten, die jahrhundertelang als Hauptüberlieferungsträger von Folklore galten. Das Wetter bestimmte den Alltag. Und wenn uns heute auch manche alte Wetterregeln wie „Wenn der Hahn kräht auf dem Mist..." vielleicht eher belustigen mögen, so flossen die Gedanken darüber doch in die "welthaltigen" Märchen ein. 

Man denke allein an die vielen Schneegeschichten aus Ländern, in denen – wie damals auch noch bei uns – die weiße Pracht das Leben zum Stillstand brachte. Schnee ist ein unendliches Thema, auch im übertragenen Sinne kann es Flocken aller Art schneien, denn – wie Jacob Grimm in seiner Vorrede zum „Deutschen Wörterbuch“ meinte: „In vorgerücktem Alter (...) werde ich von der Masse der aus allen Ecken und Ritzen auf mich andrängenden Wörter gleichsam eingeschneit“.

Märchenkenner werden sich nicht nur an Schneewittchen, Schneeweißchen, das Schneekind und Frau Holle, an „Erdbeeren im Schnee" im Märchen von den drei Haulemännchen, sondern auch an Kunstmärchen von Andersen (Die Schneekönigin) und an Oscar Wilde erinnern: In „The Selfish Giant" (Der selbstsüchtige Riese, 1888) geht es um einen zur Strafe für seine Selbstsucht eingeschneiten Riesen, der sich durch Nächstenliebe dann selbst erlösen kann. 

Und in Russland, wo im Winter noch nicht so viel von der Erderwärung zu spüren ist, liebt Groß und Klein das Volksmärchen „Snegurotschka", und von Puschkin bis Sorokin kennt man literarische Texte zum Thema „Schneesturm". Erinnert sei auch an Clemens von Brentanos Kunst-Ballade „Die Gottesmauer" (1816), in der vom inbrünstigen Beten einer alten Frau erzählt wird, die Gott um das Entstehen einer ihr Haus vor marodierenden Truppen schützenden Mauer aus Schnee bittet – und erhört wird.

Ein Sujet, das auch von Rückert und Fouqué als Lied verarbeitet wurde. Fast alle großen Gegenwartsschriftsteller sind beim Thema „Schnee" ebenfalls dabei (R.Walser, Th. Mann, Nabokov, Frisch, Hesse, S. Kirsch u.a.). 

Welche Bedeutung Märchen für Menschen
heute noch haben können, 

das sieht man an Zahlen: An der inzwischen abgeschlossenen Göttinger Jahrhundertprojekt, der Enzyklopädie des Märchens, haben mehr als 900 Wissenschaftler aus aller Welt mitgearbeitet. Noch eindrucksvoller sind aber vielleicht die nichtakademischen Aktivtäten: Im deutschen Sprachraum gibt es mittlerweile angeblich über eintausend professionelle Märchenerzähler, es gibt eine Europäische Märchengesellschaft, die fast zweitausend Mitglieder zählt und jährlich zwei Kongresse veranstaltet. Die Märchenstiftung Walter Kahn mit Sitz in München fördert Märchenforschung und unterstützt Aktionen aller Art, die mit Märchen zu tun haben, etwa durch jährliche Tagungen in Volkach und Preisverleihungen für Lebensleistungen in Sachen Märchen und Sage, sowie durch ihre Zeitschrift "Märchenspiegel". 

Daneben gibt es unzählige regionalere Märchenkreise, oder auch Museen, oder die beliebte "Deutsche Märchenstraße", und viele Städte bieten eigene Märchenfestivals an. Alle Beteiligten haben gemeinsam inzwischen dafür gesorgt, dass auch die UNESCO Volksmärchen und deren Erzählen zum Weltkulturerbe zählt. 

Aber die wirkliche Bedeutung ist mit solchen Zahlen und Fakten natürlich noch nicht erfasst! In diesem Sinne gibt es denn auch unzählige Deutungsversuche dieses Trends, wobei die meisten davon ausgehen, dass der „Entzauberung der Welt", die Max Weber so genannt und erstmals untersucht hat, irgendwie entgegengesteuert werde. Das transzendentale Bedürfnis des Menschen, das heutzutage immer weniger durch die Kirche befriedigt werde, verlagere sich dabei auch auf solche Phänomene, wie das offenbar zeitlose Märchen, an das man so viele Leitern anlegen kann...
 

Sagen sind Angstgeschichten - Märchen dagegen Wunscherfüllungsgeschichten.

Sabine Wienker-Piepho

Die Autorin

Prof. Dr. Sabine Wienker-Piepho lehrt seit Jahrzehnten volkskundliche Erzählforschung (mit Schwerpunkt "Märchen") an verschiedenen Universitäten der Welt (heute an der Univ. Jena), war jahrelang im Vorstand der Märchenstiftung Walter Kahn und ist Chefredakteurin der Fachzeitschrift "Märchenspiegel".

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