Ein Beitrag von Sieglinde Hankele.
Die Zahl der Länder, die sie bereist hat, kann sie nicht nennen. Die Zahl war ihr nie wichtig, das Reisen und Wandern schon. „Sie“ heißt Nora Deeg, lebt seit sieben Jahren im Unterhachinger KWA-Wohnstift.
Trotz oder gerade wegen des herausfordernden Alltags, den alleinerziehende Mütter auch schon in den 1960er Jahren hatten, gelang es ihr immer, Reisegeld zusammenzusparen. „Andere Frauen rauchten Zigaretten, kauften sich täglich Torte und anderes mehr.“ Sie nicht. Gut, dass die Schwiegermutter nach der Scheidung bei ihr blieb und den beiden Kindern weiterhin eine gute Oma war. Gut auch, dass man ein Zimmer der Münchner Altbauwohnung untervermieten konnte und sie Arbeit fand – zunächst im Sekretariat einer Frauenklinik, später dann an der Ludwig-Maximilians-Universität, am Institut für Deutsch als Fremdsprache. Dort arbeitete sie vor allem in der Bibliothek. Die Zusammenarbeit mit studentischen Hilfswissenschaftlern gefiel ihr gut. Sie blieb bis zur Rente.
Woher ihre große Reise- und Wanderlust kam? Gewandert ist sie schon mit den Eltern, die beide aus der französischen Schweiz stammten und nach ein paar Jahren in Chile aufgrund der Weltwirtschaftskrise 1932 mit der dreijährigen Tochter in die Schweiz zurückkehrten. Zwar nach Bern, somit in die deutschsprachige Schweiz, doch das „Schwizerdütsch“ beherrschte das Mädchen quasi über Nacht. Als sich die Eltern trennten, zog die Mutter 1941 mit der Tochter und dem kleinen Sohn in ihre Heimatstadt Genf. Für Nora war der Schulwechsel hart. Mit der französischen Orthografie musste sie bei null anfangen, auch mit dem Schriftdeutsch. Dennoch ist diese Stadt, in der sie aufwuchs, für sie Heimat und Sehnsuchtsort – obwohl auch Erinnerungen an Lebensmittelrationierung und Verdunkelung damit verbunden sind, an kalte Klassenzimmer und Schichtunterricht.
Kaum dass sie erwachsen war, zog es sie in die weite Welt. Zunächst ging sie als Au-Pair nach England, dann nach Südafrika, schließlich nach Ostafrika. Der Besuch einer Sekretärinnenschule in Genf brachte ihr eine Anstellung in Kairo. Doch eine schwere Erkrankung führte sie zurück nach Genf. Die nächste Stelle fand sie 1952 in München, wo sie ihren Mann kennenlernte und sesshaft wurde.
Die erste große Auslandsreise nach der Scheidung, und auch viele weitere, unternahm sie in einem „Rollenden Hotel“, einem Reisebus mit Schlafkabinen. Als Frau allein nach Persien zu reisen, war undenkbar. Im Lauf der Jahre lernte sie bei Expeditions- und Studienreisen viel über fremde Kulturen und Länder. Sie nennt Marokko, Libyen, Indien, Nepal, Sumatra, Bali sowie Australien. Eine Tour von ihrem Geburtsort Santiago de Chile bis Feuerland hat sie sehr berührt. Auch die Seidenstraße hat sie tief beeindruckt, bereiste sie von Pakistan bis Peking. Ihre letzte große Reise im Jahr 2012 – eine Spitzbergenumrundung mit Mitternachtssonne und Blicken auf Eisbären – bleibt ihr unvergesslich.
Da sie sowohl ihre Muttersprache Französisch als auch Deutsch und Englisch fließend sprach, gab es für sie nie eine Sprachbarriere. „Und meine Reiselust war immer groß“, sagt die heute 92-Jährige. Desgleichen die Wanderlust. Deshalb ist sie dem Deutschen Alpenverein beigetreten. So konnte sie übers Jahr immer wieder Bergtouren machen: in Bayern, Österreich und Südtirol. Dabei konnte sie nicht nur entspannen und nach anstrengendem Aufstieg den Blick über die Landschaft genießen, sondern auch Freundschaften fürs Leben schließen.
Zu Reisen und Wanderungen ist sie nicht mehr in der Lage. „Das Laufen ist nicht mehr lustig“, umschreibt sie das Handicap. Umso mehr freut sie sich, dass es diesen Sommer wieder Lesungen, Vorträge und Musik im Stift gibt. Aber auch an Ausflügen des Stifts will sie wieder teilnehmen, und gerne auch wieder Freunde im Biergarten treffen. Um mobil zu bleiben, macht sie täglich Spaziergänge.