Ist die Pflege sicher? – Der Rechtswissenschaftler und Sozialexperte Prof. Dr. Thomas Klie beleuchtet die Änderungen.
Norbert Blüm war ein großer deutscher Sozialpolitiker. Er war einer der Väter der Pflegeversicherung. Sie war mit dem Versprechen verbunden: Auf Pflege angewiesene Menschen sollen nicht zu Sozialhilfeempfängern werden. Wer hart gearbeitet hat, wer regelmäßig in die Sozialversicherung eingezahlt hat, sollte am Ende seines Lebens nicht das verlieren, was er sich mühsam aufgebaut hat. Ein typisch Blüm'sches Anliegen.
Die Pflegeversicherung hat dann tatsächlich ganz wesentlich dazu beigetragen, dass über lange Zeit – auch und gerade später im Osten Deutschlands – Heimbewohnerinnen und –bewohner nur im Rahmen des ihnen verfügbaren Einkommens zur Kasse gebeten wurden. Das hat sich inzwischen deutlich geändert: Nun sind es schon wieder 40 Prozent der Heimbewohner, die auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen sind.
Die letzte Bundesregierung hat einen Zuzahlungsdeckel eingeführt, der insbesondere für die greift, die länger als drei Jahre im Pflegeheim leben. Vielfach sind aber allein die Hotelkosten wie Miete, Unterkunft und Verpflegung so hoch, dass sie eine Rentnerin und ein Rentner mit einer Durchschnittsrente – 1543 Euro nach mind. 45 Versicherungsjahren – nicht mehr allein zahlen kann.
Die Pflegeversicherung steht auf dem Prüfstand. Das Versprechen von Norbert Blüm: "Deine Rente ist sicher" – musste nicht zuletzt unter demografischen Gesichtspunkten gebrochen werden. Das gilt nun wohl auch für die Pflege?
Man wird an einer Strukturreform nicht vorbeikommen.
Thomas Klie
Die Ampelkoalition hat sich ein durchaus ehrgeiziges Programm in die Koalitionsvereinbarung geschrieben: Eine Expertengruppe soll eine zukunftssichere Finanzierung der Pflege erarbeiten. Gerade die häusliche Pflege, die auch Wohnstiftsbewohner nutzen, sollte gestärkt, Möglichkeiten der Digitalisierung besser genutzt und innovative Wohn- und Versorgungsformen wohnortnah unterstützt werden.
Die Ampelregierung ist auch pflegepolitisch mit großen Ambitionen gestartet. Corona und der Ukrainekrieg haben zahlreiche sozialpolitische Vorhaben gestoppt – auch die geplante Pflegereform. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Gesetzgeber allerdings verpflichtet, bis zum 01.07.2023 bei der Beitragsbemessung zur Pflegeversicherung die Zahl der Kinder der Versicherten zu berücksichtigen.
Der so ausgelöste Handlungsdruck führte zu einer ersten kleinen Reform: Die Beitragssätze wurden erhöht und differenziert (vgl. Übersicht 1), die Leistungen der häuslichen Pflege schrittweise angehoben, zum 01.01.2024 um 5 Prozent – auch das Pflegegeld, die Zuzahlungen der Bewohnerinnen und Bewohner in Heimen (nochmals) stärker begrenzt (vgl. Übersicht 2).
Seit dem 1. Juli 2023 gilt ein neuer Beitragssatz für die Pflegeversicherung: Der allgemeine Beitragssatz beträgt 3,4 Prozent (bisher: 3,05 %) und der Zuschlag für Kinderlose 0,6 Prozent (bisher: 0,35 %). Für Familien mit mehr als einem Kind unter 25 Jahren gibt es Abschläge.
Die kleine Reform hat alle relevanten Akteure in der Pflege- und Altenhilfepolitik enttäuscht. Eine realistische Perspektive für eine große Reform, sie ist nicht in Sicht. Die Finanzsituation wird komplizierter, die Zahl der auf Pflege angewiesenen Menschen steigt. Steuerzuschüsse für die Pflegeversicherung, eine noch mal deutliche Erhöhung des Beitragssatzes, gelten als unwahrscheinlich und sind auch nicht die richtige Medizin für die Sicherung der Pflege.
Gesundheitliche und pflegerische Versorgung müssen stärker zusammengedacht und -geführt werden, die Kooperation zwischen Ärzten und Pflegefachpersonen gilt es, kollegialer zu gestalten und besser miteinander zu verzahnen, innovative Wohn- und Versorgungsformen gilt es weiterzuentwickeln. Für diese standen und stehen auch die Wohnstifte von KWA. Sie waren in den 1970er Jahren Pioniere einer neuen Wohnkultur und Versorgungskonzeption für ältere Menschen. Solche Pioniere braucht es auch und gerade heute.
Und es zeigt sich: Der Markt, auf den die Pflegeversicherung gesetzt hat, funktioniert heute nicht mehr in einer Weise, dass für alle und überall die Zugänglichkeit von Pflegeleistungen gewährleistet ist. Das aber genau ist das vornehmste Ziel jeder Sozialversicherung: Allgemeine Lebensrisiken, wie das der Pflegebedürftigkeit, für alle Bürgerinnen und Bürger aufzufangen und verlässliche Infrastrukturen zu erhalten.
Ein Expertengremium des Bundeswirtschaftsministeriums hat noch in der letzten Legislaturperiode ein Gutachten zur Finanzierung der Pflegeversicherung erstellt. Es empfiehlt: keine Beitragssatzsteigerung! Es setzt darauf, dass die Boomer-Generationen mit ihren vergleichsweise hohen Altersbezügen und Vermögenswerten für ihre Pflege im Wesentlichen selbst aufkommen. Da ist vom Blüm’schen Versprechen nicht mehr viel übrig.
Die Ampelregierung sollte sich gemeinsam mit den Bundesländern dringend auf den Weg machen, die gemeinsame Verantwortung für die Sicherung in der Pflege einzulösen. Durch eine konsequente Verschränkung von Prävention, Gesundheitssystem und Pflege ließe sich mit den begrenzten Ressourcen, die in der Zukunft zur Verfügung stehen, deutlich mehr für die Sicherung der Pflege für die nächste Generation tun.
Die Forschungsschwerpunkte des 1955 in Hamburg geborenen Rechtswissenschaftlers liegen in der sozialen Gerontologie und Pflege, Zivilgesellschaft sowie Rechtstatsachenforschung. Er gilt als einer der wichtigsten Sozialexperten Deutschlands. Unter anderem brachte er seine Expertise ein als Mitglied der 6. und 7. Altenberichtskommission der Bundesregierung, zudem als Vorsitzender der 2. Engagementberichts-kommission der Bundesregierung.