Ein Beitrag von Prof. Dr. Jens Junge.
Spielen ist für uns Menschen ein Grundphänomen wie die Natur, die Liebe, die Arbeit, die Herrschaft, die Macht oder der Tod. Zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen befassen sich mit einzelnen, speziellen Aspekten rund um das Spielen und die Spiele. Die Ludologie forscht als eigenständige wissenschaftliche Disziplin interdisziplinär. Eine Grundannahme vieler Spieleforscher ist, dass Spielen die entscheidende Grundlage der Entwicklung von Fähigkeiten ist und zudem ein Motor für Innovation, Veränderung und Kulturentwicklung. Die Grundlagen, Motive, Funktionen und Merkmale von Spielen bleiben bis dato aber dennoch "originären" Spielen vorbehalten.
Am Institut für Ludologie in Berlin möchten wir von Spielen lernen und zeigen, dass die Funktionsweisen von Spielen auf andere Bereiche übertragbar sind. Dazu gehören Unternehmen, Institutionen, Organisationen. Mit den Mechanismen von Spielen agieren Menschen sinnvoller, effektiver, wirksamer und nicht zuletzt mit mehr Freude. Spiel, Spaß und Freude wird nur allzu oft banalisiert und vergessen. Freud merkte dazu an: „Der Heranwachsende hört also auf zu spielen, er verzichtet scheinbar auf den Lustgewinn, den er aus dem Spiele bezog. Aber wer das Seelenleben des Menschen kennt, der weiß, daß ihm kaum etwas anderes so schwer wird wie der Verzicht auf einmal gekannte Lust."
35.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung bildete sich bei uns Menschen ein komplexes und differenziertes Sprachempfinden heraus. Ausgestattet mit der "Kulturtechnik" Sprache fingen unsere Vorfahren an, nicht nur Dinge, die sie sehen, hören, riechen, schmecken oder anfassen konnten, zu beschreiben. Die Sprache ermöglichte es, von "Sachverhalten" zu erzählen, die es real nicht gab. Die menschliche Phantasie entwickelte sich sehr wahrscheinlich parallel zur Sprache – und wurde zum Ausgangspunkt für Spiele und Spielen.
1939 wurden im Lonetal, in einer Karsthöhle der Schwäbischen Alb, Bruchstücke des sogenannten „Löwenmenschen“ entdeckt, 1969 vom Prähistoriker Joachim Hahn zusammengesetzt. Weitere Splitter fanden sich später. Die 31 Zentimeter große Skulptur aus Mammut-Elfenbein zeigt jedenfalls einen Menschen mit dem Kopf und den Gliedmaßen eines Höhlenlöwen, ist ein Mischwesen aus Mensch und Großkatze. Ob der zumindest 35.000 Jahre alte Löwenmensch ein profanes Spielzeug war oder die erste dokumentierte Form eines religiösen Heiligtums, lässt sich nicht mehr klären.
Spirituelle Gedankenspiele verfestigten sich nachweislich schon vor tausenden von Jahren in Brettspielen. Die ersten kulturhistorisch belegten Brettspiele verfolgten das Ziel, die Idee der Ewigkeit zu kommunizieren und den Weg des Lebens über die Stationen auf dem Spielbrett zu symbolisieren. Beispiele sind das Königliche Spiel von Ur (Mesopotamien, ca. 2.600 v. Chr.) sowie das Spiel Senet (Ägypten, ab ca. 3.000 v. Chr.).
Zahlreiche Spielforscher haben sich an Definitionen von „Spielen“ versucht. Alles Spiel ist vor allem ein freies und freiwilliges Handeln, darin sind sich fast alle einig. Aber was ist, wenn das Spiel, wie bei einem Profifußballer oder einem Berufsmusiker zur Arbeit, zum Beruf wird? Spielen steht, so Johan Huizinga (vgl. „Homo ludens“), außerhalb des alltäglichen Lebens, trägt nicht zur unmittelbaren Befriedigung von Lebensnotwendigkeiten und Begierden bei. – Ist Spielen also Luxus? Ein klares Nein darauf können wir geben, wenn wir das Spiel von Kindern betrachten. Sie lernen ihre Umwelt durch exploratives, neugieriges, kreatives Spielen kennen.
Huizinga sagt weiter: Die Tätigkeit des Spielens sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz, definierten Raum, seine Grenzen und seine Dauer ab. Die Abgeschlossenheit und Begrenztheit des Spiels bilden ein wesentliches Kennzeichen. Ein Spiel hat einen Verlauf und trägt seinen Sinn in sich selbst. – Doch ist es wirklich so? Für Gesellschaftsspiele und Sportspiele trifft diese Definition durchaus zu. Doch was ist mit Rollenspielen? Sie erschließen einen besonderen Sinn von Spielen.
Spiele sind Herausforderungen, die uns vor einer Überforderung im realen Leben bewahren sollen, die uns in einem Erfahrungsraum außerhalb der realen Welt die Kompetenz vermitteln können, im Spielgeschehen Erkenntnisse, Erlebnisse und Verhaltensoptionen zu gewinnen, die uns helfen, zukünftig reale Herausforderungen besser, problemloser, entspannter bewältigen zu können. Spiele sorgen für eine "Überforderungsbewältigungskompetenzvermittlung" und versorgen uns mit Optimismus.
Der Ernst des Lebens pausiert im Spiel und trotzdem können wir das Spiel in einem neuen, andersartigen Erfahrungsraum sehr ernst nehmen. Ein rein fachliches oder methodisches Wissen ersetzt nicht den in Spielen erworbenen und stark emotional verankerten Erfahrungsschatz. In unserer heutigen, digital vernetzten Welt wird der Umgang mit komplexen Strukturen und Systemen und deren Gestaltung und Veränderung für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und Charakterbildung der Menschen immer entscheidender. Spiele können dazu die notwendigen analogen oder digitalen Räume liefern. Komplexe Gesellschaften benötigen komplexe Spiele.
In der Ludologie werden überdies emotionale Beweggründe beschrieben, die uns Menschen dazu motivieren, ein Spiel zu spielen. Hunicke differenziert Spielmotive nach folgenden Kategorien: Spiel zum Verwöhnen der Sinne („Sensation“), Spiel mit surrealen Elementen („Fantasy“), Geschichte verkörperndes Spiel („Narrative“), Spiel, bei dem Hindernisse überwunden werden müssen („Challenge“), Spiel unter sozialen Aspekten („Fellowship“), Spiel auf unerforschtem Land („Discovery“), Spiel zur Selbstfindung („Expression“), Spiel zum Zeitvertreib („Submission“).
An diesen Spielmotiven orientieren sich unter anderem moderne „Game Designer“. Die Ästhetik eines Spiels stellt die “äußere” Schicht (shell) des Spiels dar, die Mechanik bildet den Kern des Spiels.
In der Brettspielszene hat sich der Begriff „analoges Spiel“ als Synonym für „Gesellschaftsspiel“ (Brett-, Karten-, Würfelspiele) etabliert. Fasst man den Begriff der analogen Spielmittel weiter und lässt die Bedingung der regelgeleiteten Spiele außen vor, dann zählt zum analogen Spiel ebenso das vielfältige Spielzeug dazu: Puppen, Stofftiere, Autos, Eisenbahnen, Baukästen, Spielfiguren etc.
Analoge Spiele bilden kulturhistorisch die Grundlage für alle digitalen Spiele. Die digitale Transfomation in der Welt der Spiele ist nichts anderes als ein Spiegel der Veränderungen in der Arbeitswelt – wobei Computerspiele als „Motoren“ technische Entwicklungen maßgeblich mit vorantrieben, dafür sorgten, dass Prozessoren immer schneller und Grafikkarten immer besser wurden: Alle, die sich Computerspiele kauften, finanzierten den digitalen Wandel mit und tun dies noch heute.
Wie bereits eingangs ausgeführt, stehen Kultur und Spiele in enger Wechselwirkung. Tatsächlich kann das unterschiedliche Spielverhalten in unterschiedlichen Kulturkreisen wissenschaftlich eingeordnet werden. Roberts und Sutton-Smith (1962) fanden unter anderem heraus, dass in religiös geprägten Kultursystemen, in denen das Wertebild den Einfluss übernatürlicher Kräfte betont, häufig Glück oder Zufall als vorherrschende Spielelemente zu finden sind.
Spiele, deren Ergebnis vorrangig von mentalen oder physischen Fähigkeiten des Spielers abhängt, treten hingegen vermehrt in leistungsorientierten Gesellschaften auf. In diesen ist der Glaube verankert, dass der Mensch sein Leben selbst in der Hand hat und die Fähigkeiten besitzt, Einfluss auf seine Umgebung auszuüben. Strategische Spiele, bei denen die Qualität kognitiver strategischer Entscheidungen höheres Gewicht hat, sind wiederum beliebter in „strukturell komplexen“ Gesellschaften.
Spielverhalten ist somit nicht nur als Ursprung der menschlichen Sozialisierung anzusehen, sondern gleichermaßen als Konsequenz vorhandener sozio-kultureller Strukturen.
Die menschliche Phantasie entwickelte sich sehr wahrscheinlich parallel zur Sprache – und wurde zum Ausgangspunkt für Spiele und Spielen.
Prof. Dr. Jens Junge
Kultur und Spiele stehen in enger Wechselwirkung. Unterschiedliches Spielverhalten in unterschiedlichen Kulturkreisen kann wissenschaftlich eingeordnet werden.
Prof. Dr. Jens Junge
Von Haus aus Verlagskaufmann, Volks- und Betriebswirt sowie Historiker wurde der Unternehmer Jens Junge nach entsprechenden Studien im Jahr 2005 in System- und Sozialtheorie zum Doktor rer. pol. promoviert. Seit 2014 ist er Direktor des „Instituts für Ludologie“ (ludologie.de) an der design akademie berlin, SRH Hochschule für Kommunikation und Design. In Altenburg (Thüringen) baut er aktuell zusammen mit dem dortigen Spielkartenmuseum das „International Game Museum“ auf und überführt eine Lehr- und Forschungssammlung mit über 42.000 Brettspielen in das dortige Residenzschloss.