Eine Geschichte von Ursula Meyer-Luyken.
Meine Mutter, Jahrgang 1893, ist in einem großbürgerlichen Haus aufgewachsen, erst in der Nähe von Wesel am Niederrhein, wo mein Großvater ein Waldgut bewirtschaftete, und später in Boppard. Dort war die Familie nach Verkauf des Gutes hingezogen.
Meine Großeltern waren beide gebürtige Holländer. Mein Großvater Carl, in Deutschland lebend, hatte sich einbürgern lassen. Er war sehr „kaisertreu“, und als nach dem 1. Weltkrieg die linke Rheinseite, wo auch Boppard liegt, von Franzosen besetzt worden war, beschloß er 1922, wieder mit seiner Frau nach Holland überzusiedeln.
Alle drei Töchter hatten inzwischen schon in Deutschland geheiratet.
Doch nun zum Thema Bechstein-Flügel: Meine Großmutter Lientje war sehr musikalisch. Sie hatte das „absolute Gehör“ und legte Wert darauf, dass ihre Kinder ein Instrument spielen lernten. Meine Mutter bekam schon früh Klavierunterricht, war begabt und fleißig. Wie sie mir mal erzählte, sollten ihre Hände geschont werden, und darum befreite man sie von den sonst den Töchtern auferlegten Pflichten des wöchentlichen Petroleumlampenputzens. Elektrisches Licht gab es ja noch nicht!
1912, nach Einzug in das große Haus in Boppard, kauften die Großeltern den neuen Bechsteien-Stutzflügel, sehr zur Freude meiner Mutter. 1920 heirateten meine Eltern und lebten danach in Berlin.
Als die Großeltern 1922 nach Holland zogen, nahmen sie den Flügel nicht mit, sondern schickten ihn meiner Mutter nach Berlin, die darüber natürlich sehr glücklich war. Er stand dann in unserem Haus in der Schwarzburgallee in Neu-Westend. Das war damals noch j.w.d. (Janz weit draußen)!
1934 zogen meine umtriebigen Eltern mit uns Kindern in ein neues Haus in der Bilsestraße im Grunewald, aber nur für ein Jahr, danach zum Hohenzollerndamm, 4. Stock, mit Blick auf den Turm der Höger-Kirche, aber auch nur für ein Jahr und schließlich 1936 wieder zurück in unser zwischenzeitlich vermietetes Haus in Neu-Westend. Die Schwarzburgallee war gerade in “Olympische Straße“ umbenannt worden, und der Fackelläufer mit dem olympischen Feuer kam an unserem Haus vorbei.
Gründe für die häufige Umzieherei meiner Eltern möchte ich hier nicht nennen. Das würden den Rahmen sprengen. Aber eins steht fest: Der Bechsteinflügel war immer dabei.
1941 ließen sich unsere Eltern scheiden. Meine Mutter zog mit meiner Schwester und mir nach Halensee, Georg- Wilhelm-Straße, 4. Stock, und natürlich mit Flügel.
1944, am 30. Januar, traf eine Sprengbombe unser Haus.
Wir saßen, wie damals schon fast jede Nacht, bei Alarm in unserem Luftschutzkeller und erlebten, wie die Stockwerke über uns herunter krachten. Die eiserne Tür des Kellers sprang auf, und eine dichte Staubwolke nahm uns die Sicht und auch die Luft. Als wir nach Entwarnung rausliefen, sahen wir, dass noch zwei Zimmer unserer Wohnung oben standen, in einem der Flügel (Unter freiem Himmel)! Zum Glück war auch das Treppenhaus noch vorhanden, über das wir am nächsten Tag unsere restliche Habe runterschleppen konnten.
Mein Vater, der damals in der Preußenallee in Neuwestend lebte, war nicht ausgebombt. Er stand uns hilfreich zur Seite und verschaffte uns eine vorübergehende Unterkunft nahe dem heutigen Bundesplatz, Umzug zu Fuß mit unseren Sachen auf einem größeren Leiterwagen durch die z.T. noch qualmende Westfälische Straße. Aber vor allem hat er eine Transportfirma gefunden, die den Flügel über das luftige Treppenhaus in der Georg-Wilhelm-Straße herunterholte und ihn dann in die Garage des Miethauses, in dem er wohnte, stellte. Garagen brauchte man ja zu dem Zeitpunkt nicht. Ein eigenes Auto hatte kaum jemand, geschweige denn Benzin.
Der Flügel wurde zunächst von Schutt befreit und danach von einem Fachmann gestimmt, und siehe da, er klang noch sehr gut!
Die geräumige Garage, eigentlich für zwei Autos gedacht, war schon längere Zeit von meinem Vater in ein behagliches Wohnzimmer umgestaltet worden. Er wohnte ja im Dachgeschoß und wollte so einen Teil seiner Möbel vor Bombenschäden bewahren.
Als ein paar Jahre nach Kriegsende die Garage wieder ihrem eigentlichen Zweck zugeführt werden sollte, hieß es erneut: Wohin mit dem Flügel? Meine Mutter lebte inzwischen schon länger im Haus ihrer Schwester bei Düsseldorf in einer kleinen Wohnung unterm Dach. Dort konnte er nicht hin.
Man beschloß, ihn zu vermieten. Eine Musikstudentin der HdK war begeistert von dem Instrument. Sie wohnte als Untermieterin bei musikliebenden Leuten in der Wandalenallee nahe der Heerstraße, wo sie ungehemmt spielen konnte. Mitte der fünfziger Jahre schloß sie ihr Studium ab und fand eine Anstellung als Musiklehrerin an einem Gymnasium in Stuttgart.
Wieder hieß es: Wohin mit dem Flügel?
Unsere Freundin Käte F., seit 1945 Sängerin im Chor der Staatsoper Unter den Linden, wollte den Flügel gern kaufen und vereinbarte mit meiner Mutter eine monatliche Ratenzahlung. Der Flügel zog nun in ihre Wohnung in der Westendallee. Manchmal gab es da sogar kleine Hauskonzerte mit Kollegen von der Oper.
Dann kam am 13. August 1961 der Mauerbau. Alle in West-Berlin wohnenden Künstler der Staatsoper Unter den Linden wurden aufgefordert, entweder nach Ost-Berlin umzuziehen, oder zu kündigen. Keiner von ihnen wollte in den Osten. Einige der jüngeren Chormitglieder kamen noch in der Deutschen Oper in der Bismarckstraße unter, aber der Rest wurde arbeitslos, auch unsere Freundin Käte. Sie war damals schon fast fünfzig und hatte keine Aussicht auf ein Engagement an einem anderen Opernhaus. Einige Jahre hielt sie sich mit Büro-Arbeit am Lehrstuhl für Romanistik der T.U. über Wasser, und schließlich entschloß sie sich, den inzwischen abgezahlten Flügel zu verkaufen. Das geschah in den siebziger Jahren.
Freunde von uns, Hans und Toska W., die eine große Wohnung in der Regensburger Straße besaßen, wollten ihn haben. Hans war ein sehr guter Klavierspieler und hatte täglich viel Freude an dem Instrument.
In der Regensburger Straße steht der Bechstein-Flügel nun schon fast fünfzig Jahre, jetzt leider stumm. Hans starb schon vor 20 Jahren. Seitdem spielt keiner mehr drauf. Eine Nachbarin zeigt Interesse am Kauf – aber wann?
Manchmal besuche ich Toska W. zum Kaffee. Im Nebenzimmer steht der Flügel, und ich begrüße ihn wie einen sehr alten Freund.
PS: Im Saal unseres KWA Stifts im Hohenzollernpark steht auf der Bühne auch ein Flügel. Er stammt aus Löbau in der Lausitz von der Klavierbauerfirma Förster und hat eine besondere Geschichte: Er stand mal bei Erich Honecker, Staatsratsvorsitzender der DDR, in seinem Haus in Wandlitz in der Schorfheide.
Wir hatten schon schöne Konzerte hier im Haus, auch wenn der Förster-Flügel nicht die Bechstein-Qualität hat.
Umziehen mußte er zum Glück nur einmal! Bisher jedenfalls.