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alternovum Ausgabe 3/2021

Digitalisierung – Zukunft der Pflege und Betreuung?

Chancen und Gefahren. – Ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Klie.

Freiburg/München/Berlin, 29. Dezember 2021

Bewegungsmelder im Fußboden und der Matratze, GPS im Schuh, Sensor im Slip, Arztsprechstunde per ZOOM, Krankengymnastik per Videoanleitung? Roboter, die beim Betten und Baden helfen? Ist das die/eine Zukunft von Medizin und Pflege? Wie stehen Sie dazu? George Orwell oder wünschenswerte Zukunft?

Wenn man auf Messen geht, die vielen Forschungsprojekte zu Technik und Pflege – an denen wir mit meinem Institut z. T. beteiligt sind, um rechtliche und ethische Fragen zu bearbeiten – kann man den Eindruck gewinnen: in der Digitalisierung liegt die Zukunft. Eine Antwort auf den Fachkräftemangel, auf die Kostenexplosion, auf die steigende Zahl alleinlebender Senioren und ihre Assistenzbedarfe. Auch die KAP, die Konzertierte Aktion Pflege der letzten Bundesregierung setzte auf Digitalisierung. Was ist davon zu halten?

Die Potentiale der Digitalisierung für die Langzeitpflege werden seit Langem diskutiert und wurden im Zusammenhang mit der Coronakrise in ihrer Bedeutung für viele relevant. Wer hat nicht gelernt zu zoomen, Covid-Zertifikate hochzuladen, das Internet für die Kommunikation auch mit Ärztinnen und Ärzten zu nutzen? Das Spektrum pflegeunterstützender und -entlastender Digitalisierung ist breit. Es reicht von der Standardisierung von Pflegeprozessen über Telemedizin, eHealth und Telecare über technische Assistenzsysteme, Robotik und mobile Health-Apps.

Digitalisierung kann auf Pflege angewiesene Menschen und ihre An- und Zugehörigen unterstützen, subjektive und objektive Sicherheit erhöhen, im Notfall Hilfe und Assistenz zugänglich machen, Kommunikation stützen und Mobilität erleichtern. Sie wird auch zur Kompensation des Fachkräftemangels diskutiert, etwa über ein automatisiertes Monitoring: big nurse is watching you? Sowohl pflegende Angehörige als auch Fachpersonal können durch Hebe- und Tragehilfen von körperlichen Anforderungen entlastet werden. Auch psychische Anforderungen werden durch Aktivitätssensoren – etwa bei Menschen mit Demenz – minimiert. 

Für die professionelle Pflege bietet die Digitalisierung Möglichkeiten der Verbesserung der Pflegeplanung.

Thomas Klie

Die Dynamik der Digitalisierung bietet wichtige Perspektiven bei einer Weiterentwicklung der Pflege und dies in allen Settings. Dabei sind mit der Digitalisierung verbundene Innovationsprogramme in der Pflege stets konfrontiert mit den Besonderheiten der Pflege als Beziehungsgeschehen. Pflege ist im Wesentlichen Interaktionsarbeit, die auf Aushandlungsprozessen beruht, die auch die Leiblichkeit des Gegenübers einbezieht.

Pflege ist und bleibt körperorientiertes Handeln und ist nur begrenzt standardisierbar. Insofern sind die mitnichten genutzten Potentiale der Digitalisierung in Medizin und Pflege – man denke nur an das Schicksal der elektronischen Patientenakte – immer rückzubinden in das, was Pflege- und Sorgearbeit professionell, familiär und im Sozialraum ausmacht: vertrauensbasierte, personenorientierte Unterstützung und Kommunikation. 

Entsprechend sind auch die politischen Erwartungen an die Digitalisierung – man kann so an Geld und Personal sparen – zu begrenzen. An der Digitalisierung kommen wir nicht vorbei. Sie bietet interessante Perspektiven. Die entsprechende Technikentwicklung gilt es mit der Praxis der Pflege und den Bedürfnissen der Patienten zu verbinden. Bei den beruflich Tätigen die Bereitschaft und Befähigung zum Umgang mit soziotechnischen Innovationen zu stärken, innerhalb der Politik Verantwortlichkeiten für Fragen der digitalen Daseinsvorsorge zu klären.

Und ethische und rechtliche Fragen werden aufgeworfen: Wozu dient die Digitalisierung – der Rationalisierung? Welche Gefahren sind mit der Digitalisierung verbunden – weniger persönliche Begleitung, mehr Überwachung statt Diskretion und Datenschutz? Stützt sie die Autonomie und verbessert sie die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger? Und wird sie allen zugänglich gemacht? Eine fundierte Auseinandersetzung mit den Chancen und Gefahren der Digitalisierung in Pflegekontexten ist vonnöten.

Digitalisierung hat sich stets in den Dienst der Bedingungen guten Lebens für auf Pflege angewiesene Menschen und ihren An- und Zugehörigen zu stellen – und kann in diesem Zusammenhang wichtige Dienste leisten.

Der Autor

Prof. Dr. Thomas Klie ist Professor für öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, Privatdozent an der Universität Klagenfurt, Rechtsanwalt in Freiburg und Berlin, zudem Institutsleiter von AGP Sozialforschung, als auch Leiter des Zentrums für zivilgesellschaftliche Entwicklung in Freiburg und Berlin. 

Die Forschungsschwerpunkte des Rechtswissenschaftlers liegen in der sozialen Gerontologie und Pflege, Zivilgesellschaft, Rechtstatsachenforschung. Er gilt als einer wichtigen Sozialexperten in Deutschland. Unter anderem brachte er seine Expertise ein als Mitglied der 6. und 7. Altenberichtskommission der Bundesregierung und als Vorsitzender der 2. Engagementberichtskommission der Bundesregierung.

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