Interview von Heidi Willmann mit Univ.-Prof. Martin Halle, TU München.
Macht Bewegung auch noch mit 80 oder 90 Jahren Sinn?
Univ.-Prof. Halle: "In den vergangenen 30 Jahren haben die Menschen in Deutschland im Schnitt sieben Jahre Lebenszeit hinzugewonnen. Letztlich geht es aber nicht um den Zugewinn an Lebensjahren, sondern um unsere Lebensqualität im hohen Alter. Diese hängt maßgeblich davon ab, ob wir regelmäßig körperlich aktiv sind oder nicht. Ich bin fest davon überzeugt: Es lohnt sich immer und in jedem Alter, mehr Bewegung in den Alltag zu integrieren, weil man damit immer etwas für seine Gesundheit und sein Wohlbefinden tut. Man ist nie zu alt oder zu krank dafür. In meinen Ambulanzen bin ich täglich mit den Folgen von Bewegungsmangel konfrontiert. Klar ist, wer sich nicht oder zu wenig bewegt, wird früher gebrechlich als andere. Wer dagegen regelmäßig körperlich aktiv ist, altert gesünder. Körperliches Training fördert die Physis und die Psyche – das gilt auch und gerade im Alter. Bewegung verbessert das Wohlbefinden und senkt das Risiko für chronische Erkrankungen. Wer trainiert, ist weniger eingeschränkt, bleibt geistig fit, hat mehr soziale Kontakte und eine höhere Lebenserwartung."
Viele Senioren gehen spazieren. Warum ist dies nicht genug an Bewegung – warum gewinnt das gezielte Training der Muskulatur mit zunehmendem Alter an Bedeutung?
Univ.-Prof. Halle: "Ich möchte vorwegschicken: Muskelabbau betrifft nicht erst Senioren. Bereits ab dem 30. Lebensjahr baut der Mensch bis zu ein Prozent Muskeln pro Jahr ab, wenn er nicht regelmäßig körperlich aktiv ist. Bis zum 80. Geburtstag haben viele nur mehr rund 50 Prozent ihrer einstigen Muskelmasse und damit ein hohes Risiko für Stürze und Knochenbrüche. Im Alterungsprozess nimmt nicht nur die Muskelkraft ab – auch die Knochen werden poröser und die Gleichgewichtsfähigkeit verschlechtert sich. Spazierengehen fördert unbestritten die physische und psychische Gesundheit – um Stürzen im Alter möglichst gut vorzubeugen, ist jedoch ein gezieltes, regelmäßiges Krafttraining, ergänzt durch Übungen für Koordination, Beweglichkeit und Ausdauer, unverzichtbar. Es stärkt die großen Muskelgruppen und die Rumpfmuskulatur, zudem verbessert es die Muskelkontrolle. Das Nervensystem lernt, die bestehenden Muskeln wieder besser anzusteuern."
Welche Bedeutung hat die Muskulatur insgesamt für die Gesundheit?
Univ.-Prof. Halle: "Muskeln sind der Motor des Lebens. Bei Inaktiven werden Stoffwechsel und Energieverbrauch heruntergefahren, Muskeln werden nach und nach in Fett umgewandelt und das Risiko unter anderem für Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall steigt an. Wird dagegen Muskulatur aktiviert, bildet sie Hormone. Diese Hormone werden ins Blut abgegeben und erreichen das Herz, das Gehirn, die Leber und den ganzen Stoffwechsel. Durch wiederkehrende Trainingsreize – auch tägliches, zügiges Spazierengehen – kann Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes vorgebeugt werden. Mit steigendem Alter gewinnt allerdings die Sturzprophylaxe an Bedeutung, denn Stürze sind die häufigste Ursache von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit. Fast ein Drittel der 65-Jährigen sowie die Hälfte der über 80-Jährigen stürzen jährlich mindestens einmal – dies belegen gemeinsame Zahlen des Robert Koch-Instituts, des Deutschen Zentrums für Altersfragen und des Statistischen Bundesamts. Nach einem Oberschenkelhalsbruch wird jeder Fünfte zum Pflegefall. Krafttraining wirkt auf die Muskulatur sowie die Knochen. Einfach gesagt: Wer mehr Muskeln hat, hat auch dichtere, stabilere Knochen."
Was möchten Sie mit der bestform-Studie erreichen?
Univ.-Prof. Halle: "Die demographische Alterung, verbunden mit dem stetig steigenden Bewegungsmangel, ist eine enorme gesellschaftliche Herausforderung. Trotz der großen Chancen hinsichtlich Gesundheit und Lebensqualität ist die Bedeutung des körperlichen Trainings von der Politik bisher nicht ausreichend erkannt und umgesetzt worden. Das bestform-Programm, welches wir mit der Beisheim Stiftung entwickeln, ist eine innovative, konkrete Maßnahme für ein gelingendes Altern und es trägt dazu bei, den dramatischen Anstieg der Pflegekosten zu bremsen. Senioreneinrichtungen erhalten künftig ein effektives, wissenschaftlich fundiertes Bewegungsprogramm an die Hand. Sie können damit ihren Bewohnern ein möglichst eigenständiges Training anbieten und so deren Selbständigkeit fördern und zudem ihre seelische Gesundheit stärken. Das möchte ich nochmals betonen, denn durch ein Training in der Gruppe können soziale Kontakte erhalten oder neu geknüpft werden – dies ist insbesondere für alleinstehende Menschen wichtig."
Muskeln sind der Motor des Lebens.
Univ.-Prof. Martin Halle
Das KWA Stift Rupertihof und das Diakoniewerk München-Maxvorstadt haben an einer Pilotstudie der Technischen Universität München (TUM) teilgenommen, die darauf abzielte, ein Bewegungsprogramm für Senioreneinrichtungen zu entwickeln. Lesen Sie hier den Erfahrungsbericht.