Siegerbeitrag von Maya Mandu zum KWA Schülerliteraturwettbewerb München 2020/21
Es war der 21. Juli 1915 in Frankreich. Der fünf Jahre alte Jaques saß mit seinen Eltern am langen Esstisch. Lachend und schreiend spielte er mit seinem Essen.
Seine Eltern legten, obwohl Jaques gerade mal fünf Jahre alt war, viel Wert darauf, dass selbst ihr kleiner Sprössling schon im frühen Alter nur das Teuerste des Teuersten auf seinen vergoldeten Teller bekam. Sie erwarteten von ihrem kleinen Sohn mit fünf Jahren bereits, im Lesen, Schreiben, Rechnen und Musizieren allen anderen Fünfjährigen weit voraus sein zu können.
Jaques jedoch konnte mit fünf Jahren gerade mal mit seinem Essen spielen, mehr aber auch nicht. Ob Fünfjährige Stress haben können, weiß ich nicht, doch Jaques schien irgendwie immer schon sehr unter Druck gesetzt zu sein, wenn es um das ordentliche Schreiben, das korrekte Lesen, das gut überlegte Rechnen oder das perfekte Musizieren ging. Er gehörte noch nie zu den braven, gut erzogenen, kultivierten, ja nicht einmal manierlichen Knaben aus reichen und machtvollen Familien.
Seine Eltern wurden immer ungeduldiger, denn ihr Sohn konnte nicht so bleiben, er konnte ihre Familie doch nicht für immer so entwürdigen. So beschlossen sie, ihren Sohn mit seinen mittlerweile sieben Jahren bei seiner Tante Dolores von Noeldan abzusetzen, damit er Tradition, französische Sitten, Regeln, und den Sinn von Bestrafung und Konsequenzen erlernt.
Dolores war die Schwester von Dalia von Maledir, der Mutter von Jaques. Sie war schon immer sehr hart, konsequent, gelehrt und kultiviert gewesen. Die Tatsache, dass sie ohne Schlagstock nie aus dem Haus ging, verstörte manche, doch so war Dolores nun einmal: hart, konsequent, gelehrt und kultiviert.
Dolores lebte in einem Haus am südlichen Rande von Limoges, es war groß und weiß, mit goldener Verzierung. Das Haus thronte nicht weit entfernt vom Stadtzentrum auf einem steinernen Platz.
Jaques gefielen die Methoden seiner Tante keineswegs, nein, er verabscheute ihre Regeln und Bestrafungen wirklich. Wenn er eine Rechenaufgabe nicht lösen konnte, bis sie bis zehn zählte, strich Dolores seinen Nachtisch. Das mochte er ganz und gar nicht. Wenn er ihr widersprach, schickte sie ihn für eine Nacht in den Kohlekeller und ließ ihn dort allein.
„Aber Tante, ich brauche doch nur etwas mehr Zeit, verstehst du? Ich bin doch erst sieben Jahre alt“, sagte Jaques immer zu Dolores.
Doch wie ihr euch denken könnt, lachte die Tante nur über seine Aussagen. Das Einzige, was sie zu seiner Beschwerde beizutragen hatte, war: ,,Du kleiner Bursche solltest wissen, dass ich alle Rechenformeln bereits mit stabilen sechs Jahren auswendig konnte.“
Ein ganzes, langes, stressiges, hartes und konsequentes Jahr war vergangen. Nun hatte Jaques sein neuntes Lebensjahr erreicht.
Dolores schickte ihn zu ihrem Vater, also Jaques Großvater Dimitri van Boedecker. Wenn Jaques nicht einmal bei ihr etwas lernen konnte, so sollte ihr Vater ihn in den Griff bekommen, ihn und seine Unanständigkeit.
Der Achtjährige empfand wieder Hoffnung und hoffte auf einen milderen Erziehungsberechtigten, doch wie seine Tante sich bereits Gedanken über das Verhalten ihres Neffen gemacht hatte, entschied sie sich bewusst für ihren Vater, also denjenigen, der ihr erst all diese Strenge und Rücksichtslosigkeit gebracht hatte.
Dimitri war mit Dana – Jaques Großmutter – verheiratet. Die beiden liebten Tradition und Ordentlichkeit, sie schätzten gutes Verhalten sehr. Wenn jedoch jemand all das nicht besaß, so halfen sie demjenigen oder, besser gesagt, zwangen sie denjenigen gerne dazu.
Als Jaques zum ersten Mal das riesige pompöse Anwesen der zwei betrat, war er sprachlos, so etwas Teures, Großes, Schönes und Sauberes hatte er noch nie gesehen. Schon nach wenigen Monaten jedoch schien ihm diese Wohnmöglichkeit nur noch abscheulich, grässlich, dunkel und unsympathisch.
Seine Großeltern hatten ihm eine Kleidungsordnung vorgeschrieben. Jeden Tag trug er ein Jackett mit Hemd, Krawatte, weiße Strümpfe und teure Kaschmirhosen, dazu noch weiße Handschuhe und ein Paar schwarze Lackstiefel.
Außerdem war er dazu verpflichtet, mit den Köchen das Frühstück, das Mittagessen, das Abendessen und das Dessert anzurichten. Wenn Reste übrigblieben, dann konnte er sich glücklich schätzen etwas essen zu dürfen, andernfalls aß er für gewöhnlich ein Käsebrot für den ganzen Tag.
Eines bedeutenden Abends lag er auf seinem Bett und starrte Löcher in die Wand. Er hatte es satt, immer wie Dreck behandelt zu werden, er hatte es satt, immer falsch liegen zu müssen, nur weil er kein Algebra mochte oder weil er nicht in der Lage war ganze Romane zu schreiben. Jaques musste etwas tun, solange er noch sein ganzes Leben vor sich hatte.
Am nächsten Morgen, ging er zu seinen Großeltern und sagte: „Ich weiß, ihr akzeptiert mich nicht, ich weiß, ihr werdet es auch nie tun. Doch wenn ihr bloß ein Mal versuchen würdet zu verstehen, wie es mir überhaupt als Kind geht, dann wäre eure Sicht auf mich möglicherweise ganz anders. Ich will nicht mehr nach eurer Pfeife tanzen und all diese Kleidung nicht mehr tragen. Ich bin ein eigener Mensch mit einem eigenen Leben und genau das dürft ihr mir nicht wegnehmen.“
Dimitri jedoch meinte: „Willst du etwa damit sagen du schätzt deine teure Kleidung und dein teures Zubehör nicht? Denn ich warne dich, andere Kinder würden für solche Dinge, wie du sie hast, ihr Leben hergeben! Merke dir das gut, du undankbarer Bursche, erwähne noch so eine Beschwerde und dein Schicksal wird dich einholen!“
Wenige Wochen nach diesem Gespräch starb Dimitri an einem Herzinfarkt. Ob Jaques traurig war? Nein, war er nicht. Ob er sich die Schuld für Dimitris Tod gab, nein, tat er nicht. Ihm ging es gut und er hoffte dennoch für Dana, dass sie über den Tod ihres Mannes schnellstmöglich hinwegkommen würde.
Dana jedoch war untröstlich und ließ sich nicht einmal ansprechen. Sie aß nichts, sie nahm kein Wasser zu sich, sie war gebrochen. Jaques sagte eines Mittags zu seiner Großmutter: „Dein Mann ist gestorben und es muss unerträglich für dich sein, jemanden zu verlieren, den du liebst. Aber das bedeutet nicht, dass du dir deswegen dein eigenes Leben zur Hölle machen musst, du brauchst Hilfe.“
Nach dieser Ansprache des Neunjährigen verstand Dana, dass sie Hilfe brauchte. Und so besuchte sie einen Therapeuten und ließ sich tatsächlich mit ihrer inneren Trauer helfen. Jaques zog dann irgendwann mit zehn Jahren im Frühling aus. Er hatte Dana gefragt, wo seine nächste potenzielle Unterkunft bei Verwandten zu finden war.
Es ergab sich Jaques Großcousine Klementra. Das bedeutete, die Cousine seiner Mutter sollte, wenn alles gut ginge, seine nächste Gastgeberin werden.
Mit der Adresse im Kopf und seinem Koffer im Schlepptau machte sich der zehnjährige Jaques auf den langen Weg nach Vesoul. Er schlenderte durch jede nur mögliche Art von Straßen, durch kleine aber feine, durch große und pompöse, ja sogar durch Felder und Wiesen wanderte er. Bis der arme Junge nun schmutzig und nass an der Avenue Aristide Briand Nummer elf ankam.
Hustend, niesend und durchnässt klopfte Jaques an der Tür. Eine alte Frau öffnete ihm und fragte verwundert: „Nanu, wer bist du denn? Was machst du denn hier in der Nacht?“
„Sind sie Klementra? Sie ist meine Großcousine, ich brauche einen Ort zum Wohnen“, antwortete Jaques.
Ohne ihm eine Antwort geben zu müssen, ließ sie ihn herein. Klementra war eine sehr sympathische und warmherzige Frau. Sie versorgte Jaques mit warmem Kakao und einer kleinen kuscheligen Decke. Klementra lebte in einem zweistöckigen Haus. Zufrieden mit dem, was sie hatte, lebte sie wie eine normale, durchschnittliche Bürgerin in Frankreich. In Wirklichkeit hatte sie ja das Geld zu einem weitaus teureren Grundstück, doch diese durchschnittliche Unterkunft hatte alles Lebensnötige anzubieten. Laufendes Wasser, eine Küche, ein Wohnzimmer, zwei Bäder und zwei kleine Schlafzimmer.
„Was braucht der Mensch mehr?“, hatte Klementra damals zu ihrer Mutter gesagt, als sie ihren Lebensstil hinterfragt hatte. Mit der Zeit wurde Klementra älter, Jaques lebte nun schon seit vier Jahren bei ihr.
Eines Tages bat sie den Vierzehnjährigen zu sich ins Wohnzimmer und sprach: „Mein Junge, nun ist es schon das Jahr 1929 und ich werde alt. Du weißt, dass ich noch nie von dir erwartet habe, etwas Unmögliches zu tun, also hör mir zu: Ich werde mich nicht mehr um dich kümmern können, du aber, du mein Junge, bist frisches Blut, ich will von dir, dass du diese Zeit der Jugend genießt. Ich gebe dir hier 7.000 Franken. Versprich mir, du gehst noch morgen zum Schneider und verlangst eine Arbeitsstelle, egal wie niedrig deine Stellung auch sein wird, du wirst anfangen zu arbeiten und du wirst sparen, sparen auf ein Haus, wenn du alt genug bist. Von heute an gehst du deinen eigenen Weg. Du wirst noch hier wohnen, aber von morgen an führst du dein Leben selbst, du entscheidest, wer du sein willst und was du tun wirst. Dein Leben liegt nun allein in deinen Händen.
Versprich mir nur eins, kleiner Jaques: Denke immer erst überall deine Entscheidungen nach und stelle dir immer die Frage: „Wer will ich sein und was will ich werden, ist diese Entscheidung richtig?“
Daraufhin willigte er ein und nahm das Geld an sich. Die Zeit verging und der eben noch Vierzehnjährige Jaques wurde volljährig. Er verabschiedete sich von Klementra und dankte ihr für alles. Dies war der schwerste Tag seines Lebens gewesen, es hatte sich angefühlt, als würde er seine Eltern verlassen, weil sie für ihn wie eine Mutter gewesen war.
Mit langen Schritten verließ er die Avenue Aristide Briand. Hätte er zurückblicken sollen? Hätte Jaques zurückrennen sollen? Ob es richtig war, Klementra zurückzulassen, wusste er vielleicht nicht. Doch was er wusste, war, dass es ihm wichtiger war, sie glücklich und stolz zu machen und wenn dies das ist, was sie sich am sehnlichsten von ihm wünschte, dann sei es so.
Mit dem Geld von seiner entfernten Verwandten baute Jaques sich bald ein Haus.
In Paris, etwas abseits der Stadt befand es sich, das mittelgroße, hübsche, eher ungewöhnliche Haus.
Das Anwesen war nicht besonders groß, es war nicht zu groß und nicht zu klein, besaß nur das Nötigste. Mit einem kleinen Kiesweg, der ins Stadtzentrum führte, nahm Jaques Haus nahe eines Waldes Platz. Man könnte fast sagen, sein Haus war eine kleine, zierliche Berghütte.
Auf seiner langen Reise hatte Jaques vieles gelernt von seinen Eltern, von seiner Tante Dolores und von seinen Großeltern Dimitri und Dana. Aber am meisten, am meisten hatte ihm Klementra, die charmante alte Großcousine aus der Avenue Aristide Briand in Vesoul beigebracht.
Mit den Jahren wurde Jaques älter, erst wurde er 32 Jahre alt und lebte mit seiner Frau Jaqueline und seinen zwei kleinen Kindern Jack und Joeline in seinem Haus. Es war unglaublich, jeden einzelnen Tag mit seinen Liebsten um sich herum zu verbringen.
Jaques Alterszahlen änderten sich und er wurde 45. Er brachte seinen Kindern viel bei. Jeden Tag stand er nur auf, um die Gesichter seiner heranwachsenden Kinder zu sehen.
Jaques wurde alt, sehr alt, steinalt.
Mit jedem Morgen genoss er die zahlreichen Sonnenstrahlen, wie sie den kleinen Kiesweg entlangwanderten. Er liebte das Leben bis zu seinem 95. Lebensjahr. Jaques wusste in einer Nacht bereits, dass sein Tod bevorstand, und so verabschiedete er sich in jener Nacht erst von seinem begabten Sohn Jack, dann von seiner hübschen Tochter Joeline und schließlich von seiner fantastischen Ehefrau Jaqueline.
Ohne einen weiteren Satz zu sagen, schlief er am 21. Juli 2010 um 5.07 Uhr mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem guten Gewissen ein und wachte noch am selben Tag und für immer nicht mehr auf.
Seine Frau und seine Kinder waren untröstlich, und doch lächelte Jaques weiter, weiter und weiter, ja, er lächelte sogar mit geschlossenen Augen auf seiner eigenen Beerdigung.
Sein Gesichtsausdruck schien, als würde er allen Anwesenden etwas mitteilen wollen, so etwas wie: „Jeder von euch Anwesenden hat mir einen Teil meines Lebens geschenkt, ich freue mich, dass ihr euch alle hier versammelt habt, um meinen Tod zu betrauern. Doch Eines sollt ihr wissen: Ihr wart vielleicht nicht immer alle tolerant und nett zu mir, doch ich bin euch nicht böse oder etwas dergleichen, nein, ich bin euch sogar dankbar dafür, dass ihr mir auf eure eigene Weise gezeigt habt, was es heißt, ein eigener und völlig individueller Mensch zu sein.“
Es war bedauernswert zu sehen, wie seine Verwandten auf Jaques Beerdigung nicht einmal mit der Wimper zuckten, und das nur, weil sie nicht verstehen konnten, dass jemand aus derselben Familie einen anderen Lebensweg gewählt hatte.
Ein Junge, der dazu gezwungen wird, eine tragische und zugleich auch ungewöhnliche Reise durch seinen Familienstammbaum anzutreten. Also wenn das kein Ausnahmezustand ist, dann weiß ich auch nicht weiter.
Copyright: Maya Mandu