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alternovum Ausgabe 2/2021

Mehr Demokratie wagen – auch in Zeiten von Corona?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Klie

Berlin, 14. August 2021

Der Staat hat den Bürgerinnen und Bürgern in der Corona-Pandemie viel Gehorsam zugemutet: Quarantäne, Kontaktbeschränkungen, Eingriffe in Mobilität und öffentliches Leben. Das war überwiegend nachvollziehbar und gerechtfertigt. Es lässt sich aber nicht leugnen: Die Grundrechtseingriffe waren massiv. Das gilt für alle Altersgruppen, von den Kindern bis zu den Hochbetagten, das gilt für Familien, aber auch für alle beruflich Tätigen, die Gastronomie- und Einzelhandelsbetriebe, gemeinnützige Organisationen und nicht zuletzt auch die Menschen, die in Einrichtungen des betreuten Wohnens, Wohnstiften und stationären Pflegeeinrichtungen leben. 

Die Akzeptanz, gerade bei älteren Menschen, gegenüber von ihnen abverlangten Einschränkungen war in der Regel sehr groß. Man hat nicht zuletzt aus Verantwortung gegenüber anderen die Regeln eingehalten, auch wenn sie zum Teil schwer nachvollziehbar und nicht immer verhältnismäßig waren. Systemvertrauen ist für die Demokratie unverzichtbar. Demokratie lebt von der aktiven Mitgestaltung der Gesellschaft im Kleinen und Großen, vom Vertrauen in die Institutionen, in die Organe der repräsentativen Demokratie. Demokratie erschöpft sich aber nicht allein im Wählen gehen, in Kommunal-, Landes- und Bundestagswahlen. Demokratie ist, wie es Willy Brandt formulierte, eine Lebensform. Insofern gesellen sich neben Formen der repräsentativen Demokratie auch andere. 

Die direkte Demokratie eignet sich kaum für die große Politik. Kooperative Demokratieformen, sie können ihren wichtigen Beitrag dazu leisten, Demokratie für Bürger in anderer und neuer Weise erfahrbar zu machen, ihrem Engagement und ihrer Bereitschaft zur Mitgestaltung einen Rahmen zu geben, von ihrer Expertise zu profitieren. Auch können sie dazu dienen, dass die Politik, dass die jeweilige Regierung ein Ohr an den Sorgen der Bürger hat. Genau das fehlt aus der Sicht vieler auch in Zeiten der Corona-Pandemie. 

Bürgerräte haben sich als eine kooperative Demokratieform national und international etabliert. Ein Bürgerrat für Demokratie wurde auf Bundesebene eingesetzt, ein Bürgerrat für die Außenpolitik beim Bundeaußenministerium angesiedelt. Die Landesregierung Baden-Württemberg bemüht sich seit langem um die Etablierung von Formen der Bürgerbeteiligung auf kommunaler und Landesebene. Ministerpräsident Kretschmann versprach eine Politik des Gehörtwerdens. Seine bislang im Amt befindliche Staatsrätin Gisela Erler hat in der Corona-Pandemie das ‚Bürgerforum Corona‘ einberufen. Dort diskutieren Bürgerinnen und Bürger einmal im Monat über Coronathemen, die sie selbst mehrheitlich ausgewählt haben, mit von ihnen ausgewählten Expertinnen und Experten über zentrale Fragen, die sich ihnen in Zeiten der COVID-19-Pandemie gestellt haben und stellen.

Auf der Agenda standen Themen wie Impfen (die Impfstoffe, Gefahren und Nebenwirkungen, Impfpflicht, Priorisierung), die sozialen Folgen der Corona-Pandemie und des Lockdowns, die Situation der Kinder und Familien, was kommt nach dem Lockdown? Im digitalen Format treffen sich sechzig zufallsausgewählte Bürger aus allen Landesteilen, aus sehr unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen, mit und ohne Migrationsgeschichte, Menschen mit Behinderungen, Bewohner von Pflegeeinrichtungen, Jugendliche. Sie diskutieren im Plenum, sie vertiefen ihre Diskussion in Arbeitsgruppen, die sie selbst moderieren, und formulieren Vorschläge an die Politik: Jeweils ein hochrangiger Vertreter der zuständigen Ministerien, nach Möglichkeit der Minister oder die Ministerin selbst, nehmen die Vorschläge aus dem Bürgerforum entgegen. Manche der Vorschläge wurden aufgegriffen, andere entsprachen den Maßnahmeplänen der Landesregierung. Wieder andere wurden verworfen.

In meinem Institut zze (*Zentrum für zivilgesellschaftliche Entwicklung, Freiburg/Berlin) begleite ich diesen Prozess, Studierende haben die Mitglieder des Bürgerforums befragt. Hier wurde deutlich: Ob passiv oder aktiv am Bürgerforum beteiligt, alle sehen darin eine Möglichkeit, nicht nur passiv zu erdulden, was in der Corona-Pandemie geboten ist, sondern darüber zu diskutieren, sich exklusiv zu informieren, sich mit Mitbürgern auszutauschen, mit denen man sonst nicht im Kontakt ist.

Das tut gut, das schafft das Gefühl von demokratischer Lebendigkeit, von einer Diskussionskultur, die für eine vitale Demokratie elementar ist. Keiner der Beteiligten hatte bisher Erfahrungen in einem Bürgerrat. Alle aber sagen: Das war  und ist eine wichtige Erfahrung, darüber habe ich in meiner Familie, in meinem Freundeskreis, in meiner Nachbarschaft, am Arbeitsplatz berichtet, es hat mich qualifiziert in den Debatten um die Corona-Pandemie. Und wir haben den Eindruck mitgenommen: Es lohnt, um die richtigen Lösungen in der Pandemie zu ringen. Darum geht es im Kern in der Demokratie – gemeinsam um die besten Lösungen für alle zu ringen. Bürgerräte, auch wenn sie keine unmittelbare Wirkung erzielen, ihre Empfehlungen keine Verbindlichkeit erlangen, sie sind Ausdruck dieses Ringens. 

Auch in Wohnstiften oder Pflegeheimen gibt es Orte demokratischer Beteiligung. KWA hat die Stiftsbeiräte als demokratische Organe auch dort beibehalten, wo es gesetzlich nicht verlangt wird. Das ist richtig so. Die BAGSO, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen, hat einen Preis ausgelobt: Selbst- und Mitbestimmung in Pflegeheimen während der Corona-Pandemie. Auch dieser Preis ist Ausdruck der Bedeutung demokratischer Diskurse, auch und gerade in Senioreneinrichtungen in Zeiten der Pandemie. Demokratie ist eine Lebensform. Sie findet überall Platz und braucht vielfältige Formen, damit sie erlebbar gemacht wird, erlebbar bleibt und ihre Kraft entfalten kann. Auch in Zeiten der Corona-Pandemie.

Es lohnt, um die richtigen Lösungen in der Pandemie zu ringen. Darum geht es im Kern in der Demokratie – gemeinsam um die besten Lösungen für alle zu ringen.

Prof. Dr. Thomas Klie

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