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alternovum Ausgabe 1/2021

Meine Kindheit im Nachkriegs-Berlin

Ein Rückblick von Verena Bremner.

Berlin, 21. Mai 2021

Angeregt durch die vielen Berichte und Fotos vom Kriegsende 1945 und der Nachkriegszeit, ist meine eigene Kindheit wieder lebendig geworden. Irgendwann im Frühsommer 1945 erreichten wir nach lebensgefährlichen Fluchtabenteuern die Niersteiner Straße in Berlin-Grunewald, die im englischen Sektor lag. Wir, meine Mutter 30 Jahre alt, mein jüngerer Bruder 4 Jahre und ich noch keine 8 Jahre alt.

Unser Besitz bestand aus einem riesigen schwarzen Koffer mit unserer gesamten Habe: Anziehsachen, zwei rahmenlose kleine Ölbilder und einige Familienfotos. Unsere eigene Wohnung war von Deutschen und Russen völlig ausgeplündert und zerstört worden. Mein Großvater, der Schwiegervater meiner Mutter, freute sich riesig, uns lebend wiederzusehen. Er war viermal ausgebombt worden und hatte diese halbleere Wohnung zugewiesen bekommen. Tags zuvor war er noch von marodierenden Russen „besucht“ worden, die ihn eigentlich erschießen wollten, aber dann nur dieses und jenes mitgehen ließen. 

Die Wohnung war geräumig, vorne ein Entrée mit WC, dann das erste Zimmer, in dem eine ältliche Frau, Johanna, wohnte, die über den Zuwachs mit kleinen Kindern nicht glücklich war. Gegenüber befand sich die Küche. Der breite lange Flur dazwischen, wurde durch das Fehlen der halben eingestürzten Küchenwand vergrößert. Der Spruch „heute bleibt die Küche kalt“ galt bei uns täglich. Wir hatten schlicht nichts zu Essen. Das zweite Zimmer bezogen wir drei. Das dritte Zimmer mit Erker und sehr großer Balkon-Terrasse, war ein Durchgangs-Zimmer, dann folgte ein kleiner Flur mit einem winzigen Zimmer „Nummer 4“, dort schlief mein Opa, der sich tagsüber im großen Durchgangszimmer aufhielt. Es folgte ein Badezimmer und ein mittelgroßes fünftes Zimmer. In diesem stand ein Klavier, sonst war es leer. Was in unserem Zimmer „Nummer 2“ an Möbeln war, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere nur, dass ich längere Zeit auf dem edlen Parkett schlief, mit irgendeiner dünnen Decke und, daß es hart und kalt war.

Meinen Vater gab es nicht mehr. Er war auf der Straße von Russen verschleppt worden. Wir sahen ihn erst elf Jahre später wieder. Meine Mutter ging sofort auf die Pirsch, um Betten, Hausrat und Lebensmittel zu organisieren. Außerdem brauchten wir eine Einnahmequelle. Der Großvater erhielt eine Pension. Er war bei der kaiserlichen Marine Schiffsbauingenieur in Kiel gewesen, und war mittlerweile 71 Jahre alt, über 1,90 Meter groß und nun sehr klapprig, dünn und elend. Aus seinen ausgebrannten Wohnungen hatte er zwei sehr schöne große Cloisonné-Vasen, die er einst aus China mitgebracht hatte, gerettet und viele gigantisch große, schöne weiße Damast-Servietten, mit gesticktem Monogramm, und weiter 20 Bände der „Seekrieg 1914 – 1918“. Alles Dinge, die in unserer Lage sehr brauchbar waren! 

Mein Bruder und ich waren ziemlich angeschlagen. Wir hatten beide die Ruhr und die Krätze, hinzu kam die Unterernährung. Unsere Mutter war unermüdlich unterwegs bei den Ämtern, der Kirchgemeinde und auf dem schwarzen Markt. Ihr Schmuck war leider schon früher gegen Schweinefett und Speck bei den Russen gelandet. Trotzdem kam sie immer mit irgendetwas nach Hause. Eine Arbeit hat sie auch erobern können, Entnazifizierungs-Papiere mit der Schreibmaschine tippen. 

Es war ein schöner Sommer und wir wurden irgendwie wieder gesund. Da sich sowieso niemand so richtig um uns Kinder kümmerte, waren wir den ganzen Tag draußen, haben gespielt, getobt und große Steinschlachten in den zahlreichen Ruinen veranstaltet. Irgendwann ging meine Mutter mit mir in die Grundschule in der Delbrückstraße, um mich dort anzumelden. Ich war bis dahin eigentlich nie regelmäßig, bis gar nicht zur Schule gegangen. Und konnte nun mit meinen fast acht Jahren weder rechnen noch lesen und schreiben. Ich höre noch die Direktorin: Das Kind ist zu groß und zu alt, es kommt in die zweite Klasse. Es war eine Qual, drei bis vier Kinder in einer Zweier-Schulbank. Mein Werkzeug, eine gesprungene Schiefertafel und ein Griffel. In der Klasse etwa 50 Kinder, ein brutaler alter Lehrer, der jeden Tag mit dem Rohrstock auf die Handflächen der Kinder schlug, wenn man wieder nicht richtig rechnen konnte.

Nachmittags folgte Nachhilfeunterricht für mich. Ich war sehr unglücklich und wurde nur durch meine Freundin Edith bei Laune gehalten. Eines Tages durfte ich hoffnungsfroh den Lehrer ins „Nährmittel-Zimmer“ begleiten, um Unterrichtsmaterial zu holen. Meine Enttäuschung war gewaltig. Nichts wie staubige ausgestopfte Viecher und große Landkarten waren dort, weit und breit nichts „Eßbares“. Keine Nährmittel. Das Zimmer hieß wohl „Lehrmittelzim-mer“, wie ich hungrig feststellen musste. 

Aber immerhin wurden wir von den englischen Besatzungssoldaten mit „Schulspeisung“ versorgt. Jeden Mittag bekam jedes Kind eine große Kelle Essen in sein Eimerchen. Mein Bruder und ich durften nur die Hälfte davon essen. Die andere Hälfte bekam mein Opa, der immer schon, sehnsüchtig wartend, an der äußersten Ecke des Balkons nach uns Ausschau hielt. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir je Essen auf dem Heimweg verschüttet haben. 

Es kam der Winter 1945/46. Er war extrem kalt. Wegen Kohlenmangel fiel die Schule aus. Wir wurden beide krank. Bronchitis und Mumps. Wochenlang lagen wir zusammen im Bett meiner Mutter und konnten uns so gegenseitig wärmen. Mitten im Zimmer stand ein kleiner schwarzer Eisenofen. Das Ofenrohr lief unter der Zimmerdecke zum Fenster raus. In sämtlichen Fenstern waren Pappen genagelt. Die Glasscheiben waren im Krieg herausgefallen. Es war unter 0 Grad im Zimmer, in der übrigen Wohnung war es noch viel kälter. Zur Nacht ging mein armer Opa in sein Zimmerchen. Jeden Morgen hofften wir, dass er nicht erfroren ist. Er tauchte aber morgens immer wieder auf und berichtete, dass er Mühe hatte, seinen an der Bettdecke angefrorenen Bart abzutauen. 

Bei Tauwetter gab es im Haus oft Rohrbrüche. Wir konnten in der Wohnung auf Eisbahnen „schlittern“. Im Tagesspiegel, der schon gedruckt wurde, gab es wöchentlich eine Seite nur mit Namenslisten. Die Überschrift: „Unsere Toten, erfroren und verhungert“. Unsere üppige Ernährung bestand aus dünnen fettlosen Suppen in Gelb, Grau oder Grün. Die gelbe Suppe war wohl aus Erbsen. Die graue hatte Unmengen Spelzen, die von mir alle aussortiert und auf dem Tellerrand ringsherum drapiert wurden. In der grünen Suppe gab es rotorangene Einsprengsel und „Fleischeinlage“ in Form von Maden, die durch das Wasser wieder fit wurden und obenauf schwammen. Dann gab es noch ganz nasses, schwarzes, total verunreinigtes Kommissbrot. Tagesration für jeden von uns: Zwei Scheiben. Der Belag bestand aus etwas Salz, das wir uns darauf streuten. Oder meine Mutter fabrizierte „Stalin-Schmalz“, das bestand aus etwas Mehl und Wasser, wurde verquirlt und kurz gekocht, bis es ganz dickflüssig bis fest war. Gewürzt wurde mit Salz. In den meisten Familien war das Brot sicherheitshalber eingeschlossen. Den Schlüssel hatte die Hausfrau. So konnte sich niemand am Brot der anderen vergreifen.
 
Wir hatten den Winter überstanden, und die Schule fing wieder an. Ich war nicht klüger geworden. Und so übte mein Opa mit mir auf den unbedruckten Zeitungsrändern Schreiben. Eine „betrübliche Schulkarriere“! Lieber war ich mit den anderen Kindern unterwegs, um eventuell etwas Brauchbares zu „finden“. In der Dämmerung schlichen wir oft zum Güterbahnhof Grunewald. Die Älteren enterten die Waggons und wir Kleineren sammelten in Windeseile und unsichtbar; das Gelände wurde bewacht und es wurde von der Militärpolizei auch geschossen, alles was von oben aus den Güterwagen heruntergeworfen wurde, ein. Das konnten Kohlen sein, oder Kartoffeln, oft riesige Kohlköpfe. Schnell verschwanden wir mit unserer Beute durch die Ruinen in der Trabener Straße, Richtung Niersteiner. Meine Mutter hatte sich abgewöhnt zu fragen, woher die Kostbarkeiten stammten. Im Lauf des Winters war sie selbst mit dem Opa nachts mit geliehenem Beil und Säge auf Holzsuche. 

Eines Morgens lag auf dem Flur, vom Eingang bis ins Zimmer „Nummer 3“, eine ganze, lange, dünne Birke. Ich habe nicht gefragt, wo sie die gefunden haben. Ein anderes Mal versuchten sie nachts ein Stück Jägerzaun in der Trabener Straße abzusägen und wurden dabei erwischt. Beil und Säge kamen aufs Polizeirevier. Es war ein Drama. Die lebenswichtigen Werkzeuge waren vom Nachbarn geliehen. Also ging meine Mutter am nächsten Morgen völlig verzweifelt zur Polizei. Unter Tränen schilderte sie unsere Lage: Alter Opa, zwei kleine Kinder, eiskalte Zimmer, keine Heizung, kein Essen! Die Polizei ließ sich erweichen und gab ihr Säge und Beil zurück. Die Geschichte hat meine Mutter mir erst Jahre später erzählt. Auch dass sie den Zaun nicht abgekriegt hatten, weil ein ganzer Teepavillon daran hing. Also sehr professionell war das nicht. 

Im Sommer 1946 verließ uns Johanna und es zog in „Nummer 1“ die Tänzerin Karin ein. Sie war circa 20 Jahre alt, sehr hübsch, lustig und tanzte in der Scala als „Dritte von links“. Sie freundete sich sofort mit meiner Mutter an. Und ich fand sie natürlich ganz, ganz toll! Der größte Vorteil für uns war, dass sie ständig von amerikanischen Verehrern umworben wurde, die sie mit Militärautos oder Jeeps abholten. Für uns fiel manchmal etwas Schokolade oder Kaugummi ab. Für meine Mutter Camel-Zigaretten und Nescafé. „Camels“ waren eine offizielle Schwarzmarktwährung und meine Mutter begann eine emsige Handelstätigkeit. Sie hatte eine Freundin Anneliese in Frohnau (französischer Sektor), die „Verbindung“ zu französischem Wein hatte. Also wickelte meine Mutter lange die Geschäfte „Ami-Zigaretten“ gegen französischen Wein ab. Es war eine elende Schlepperei mit den Weinflaschen in der S Bahn. Aber es lohnte sich für uns.

Karin verschaffte meiner Mutter eine weitere Einnahmequelle. Es kamen regelmäßig Opernsänger und Sängerinnen zu uns, zu Repetitionsstunden. Meine Mutter konnte sehr gut Klavier spielen. Sie hatte früher am Berliner Konservatorium studiert. Für uns Kinder war es ein Graus, wenn am späten Nachmittag die Sänger bei uns einfielen, mit meiner Mutter ins Zimmer „Nummer 5“ zogen und probten. Ende des Sommers verschwand traurigerweise meine Freundin Edith mit ihren Geschwistern und Eltern nach Karlshorst. Der Vater war Physiker. Die Russen boten ihm ein schönes Haus dort an. Natürlich sollte er für sie arbeiten. Es dauerte nicht lange und die Familie wurde nach Russland verschleppt. 

In ihre alte Bleibe in der Erbacher Straße, um die Ecke bei uns, zog bald eine große Familie namens Bremner ein. Der Erste, der unserer Kinderbande auffiel, war der Junge, so alt etwa wie ich. Wohlgenährt und abenteuerlich gekleidet, auf dem Kopf eine Russenmütze, eine zu große lumpige Jacke, eine merkwürdig geschnittene Hose, steif wie ein Brett. Später erfuhr ich: Sie war von der Mutter selbst genäht aus einem Stück Lastwagenplane. An den Füßen Damen-Gummigaloschen, die man früher bei schlechtem Wetter über die Lederschuhe zog. Sie hatten ausgeformte, circa 5 cm hohe Absätze, die seine Mutter mit Holzbauklötzchen gefüllt hatte. Richtig laufen konnte der Junge namens Justus damit nicht. Aber niemand von uns hatte ja etwas Anständiges anzuziehen. Später musste er oft mit einem Freund in meiner Klasse nachsitzen.

Der Winter 1946/47 war ebenso grässlich kalt wie der vergangene. Ich bin aber wohl mehr und regelmäßiger zur Schule gegangen. Aus gut erhaltenen Marine-Uniformteilen aus dem Ersten Weltkrieg, die mein Opa irgendwoher geholt hatte, wurden für meinen Bruder und mich Mäntel genäht. Ein paar Marine-Goldknöpfe „Made in Paris“ mit eingeprägtem Anker habe ich bis heute behalten. Trotz der Wollmäntel haben wir wieder Tag und Nacht unheimlich gefroren. Unsere neueste Entdeckung waren englische Militärlastwagen, mit Koks beladen. Wir marschierten zur Königsallee, zur Kurve am Walther Rathenau Denkmal, die Mutigsten sprangen kurz vor die Laster, die natürlich sofort bremsten. Hinten flog durch den Schwung der Koks von der Ladefläche. Hastig wurde alles von uns eingesammelt und wir verschwanden in den umliegenden Ruinengrundstücken.

Weihnachten 1946 ging es mit der Familie in die halbzerstörte Grunewaldkirche. Wieder wurde vom Pfarrer die Weihnachtsgeschichte vorgetragen. Worauf mein kleiner Bruder nach etwa drei Sätzen mit glockenheller lauter Stimme verkündete: „Kommt wir gehen nach Hause, das hat er voriges Jahr auch schon erzählt.“ Ich glaube, in diesem Jahr hatten wir so etwas wie einen kleinen Weihnachtsbaum oder Ast mit spärlichen Lametta-Fäden dekoriert. Geschenke gab es keine, wie auch das Jahr davor. Wir hatten keinerlei Spielzeug und wenn wir irgendetwas bekamen, waren es kratzige Pullover oder Socken aus alter gebrauchter Wolle.

Zwei Ereignisse sind mir aus den ersten Schuljahren noch erinnerlich. Zum einen wurden wir zu einer „Entlausungsstelle“ geführt, wo man uns in gigantische weiße DDT-Wolken hüllte. Damit sollten sämtliche Läuse, Wanzen, Flöhe und Konsorten eliminiert werden. Das zweite war der Besuch einer Fotoausstellung, von den Engländern organisiert, mit Auschwitz-Fotos. Wir sollten begreifen, was die Nazis angerichtet hatten. Natürlich waren wir damit überfordert, aber wir begriffen, dass das noch schrecklicher war, als das, was wir teilweise erlebt und gesehen hatten. Bedrückt gingen wir zurück in die Schule. 

Im folgenden Sommer lernte ich Schwimmen und Radfahren. Wir zogen bei schönem Wetter stets zum Baden durch die Ruinengrundstücke an den Halensee. Die größeren Kinder wickelten mir eine endlos lange Schnur mit aufgezogenen Flaschenkorken um den Bauch und meinten, nun soll ich mal los schwimmen. Es funktionierte einigermaßen. Ende des Sommers konnte ich mich gut über Wasser halten, meinen Freischwimmer habe ich später mit meiner Schulklasse im Hallenbad in der Krumme Straße gemacht. Es war ein Segen, dass meine Mutter nie erfuhr, dass wir all die Zeit davor, ohne schwimmen zu können, auf dem Königssee mit „geliehenen“ löchrigen Kähnen herumgondelten und im Winter auf dem oft noch sehr dünnen Eis spielten. Oft war das dann zu Zeiten des Kindergottesdienstes, zu dem wir eigentlich gehen sollten.

Im selben Sommer lernten alle Kinder Radfahren auf einem uralten halbkaputten Herrenfahrrad mit Vollgummireifen. Da wir nicht über die Stange reichten mit unseren Kinderbeinen, schlängelte man das eine Bein unter der Querstange zur anderen Pedale hin. Die Schieflage erschwerte die Sache sehr, trotzdem lernten wir alle fahren. Natürlich gab es viele ziemlich böse Verletzungen. Im Sommer liefen wir barfuß und immer wieder mal geriet jemand mit den nackten Füßen zwischen die Speichen oder man kippte in voller Fahrt um. Die „Verletzten“ wurden umgehend vom Rest der Truppe auf der Stange, dem Lenker, oder dem Gepäckträger des Rades, ins Martin-Luther-Krankenhaus gefahren. Das Gefolge trabte zu Fuß hinterher. Im Martin Luther waren wir bestens bekannt und gelitten, wir wurden jedes Mal anstandslos verarztet. Das Wichtigste jedoch war immer, dass zu Hause niemand etwas mitbekommen durfte. Natürlich hantierten wir auch mit gefundener Munition. Und es passierte auch zuweilen Schreckliches. Ich hatte zu große Angst und verschwand jedes Mal zur rechten Zeit. Irgendwann wurde mir in nächtlicher Notoperation der Blinddarm entfernt. Ich lag geschlagene vier Wochen im Martin Luther in einem zu kurzen Kinderbett.  Die Naht wollte nicht heilen. Ob es am zu kurzen Bett oder am Blumenwasser, das ich heimlich trank, lag, weiß ich nicht. 

Ende des Sommers gab es wieder größere Veränderungen. Meine Mutter fand eine feste Anstellung als Sekretärin bei einem Nachbarn, der einen Dekorationsstoffhandel betrieb und in Berlin viele Theater, Opern und Kinos mit Vorhang- und Polsterstoffen belieferte. Ich fuhr die Pakete mit einem Bollerwagen zur Post, gegen 20 Pfennig Lohn. Außerdem zog mein Onkel, der jüngere Bruder meiner Mutter, ins Zimmer „Nummer 5“. Er musste nach dem Abitur sofort zum Militär, hatte eine schwere Kopfverwundung erlitten und wurde mit den Jahren völlig taub. Zu der Zeit konnte er noch Klavier und Geige spielen. Er übernahm es, uns Kindern Klavierunterricht zu geben. Außerdem gab er fremden Kindern Geigenunterricht. Das habe ich in schrecklichster Erinnerung, die Katzenmusik und das Geschabe auf der Geige. Ich trat in totalen Streik, verweigerte jegliches Klavierspielen, lernte keine Noten und flüchtete einfach nach draußen. Ich hatte bald Ruhe, da alle Wichtigeres zu tun hatten, als mich zu disziplinieren. Durch die regelmäßige Arbeit meiner Mutter hatte ich plötzlich viel zu tun – fand ich! Ich musste waschen, bügeln, Wohnung putzen und Geschirr abwaschen, lernen. 

Die größte Zäsur meiner Kindheit war das Jahr 1948. Die Währungsreform. Mit dem sauer verdienten Reichsmark-Geld meiner Mutter konnten wir jetzt auf der Straße spielen. Dafür gab es plötzlich einen Kolonialwarenladen in der Nähe, in dem man alles, alles kaufen konnte mit der neuen D-Mark. Vom ersten Geld kaufte meine Mutter ein halbes Pfund Butter und ein wundervolles helles, großes Brot, legte alles auf den Tisch und sagte: „Jeder kann so viel essen wie er will.“ Das war ein großer unvergesslicher Moment für mich. Auch lernten wir exotische Früchte wie Orangen und Bananen kennen. Wochen später musste die Verkäuferin des Ladens meine Mutter darauf hinweisen, dass mein jüngerer Bruder immer noch regelmäßig aus den Obstkisten klaute. Peinlich, peinlich, aber auch er hat es irgendwann begriffen, dass die „wilden Zeiten“ vorbei waren.

Nach dem paradiesischen Beginn einer neuen Zeit wurde es sehr bedrohlich. Die Erwachsenen machten ernste Gesichter. Karin verschwand aus dem Zimmer „Nummer 1“. Dafür stieß meine Tante, die Schwester meines Vaters, zu uns. Sie war Lehrerin in einem Schullandheim in der Nähe von Potsdam gewesen und wollte nicht allein im „Osten“ bleiben. Also kam sie zu uns in den englischen Sektor und zog in das Zimmer „Nummer 1“. Sie fand auch gleich eine Stelle in der Schule in der Kranzer Straße. 

Die Berlin-Blockade (Juni 1948 bis Mai 1949) war für uns Kinder interessant und aufregend. Jede Menge neue US-Nahrungsmittel tauchten auf und es gab genug für alle. Irgendwann verschwanden die Pappen in den Fensterrahmen und wurden durch Glas ersetzt. Ein wohliges neues Wohngefühl machte sich breit. Ebenso wurde der Eisenofen mit dem langen Ofenrohr durch eine Kohlezentralheizung ersetzt. Gas gab es schon länger. Dann kam der Schock für unsere zusammengewürfelte Familie. Eines Tages stand ein Herr vor der Tür und erklärte: Diese Wohnung wäre seine gewesen. Mein Opa wusste davon. Er wolle uns auch nicht vertreiben, aber seine Möbel hätte er gerne abgeholt. Der „Kriegsrat“: Opa, Mutter, Onkel und Tante, trat zusammen. Die Tante hatte ein paar wenige Möbel mitgebracht, das reichte gerade für ihr Zimmer und für die übrige Möblierung konnte gottlob der Opa sorgen. Er kaufte mit meiner Mutter zusammen ein paar wirklich unentbehrliche, sehr einfache Möbelstücke. Ob er dafür Schulden gemacht hat weiß ich nicht. Neben überschaubaren Geldsorgen wurde unser Leben etwas zivilisierter. 

Wir Kinder wurden nun ständig von vier Personen „erzogen“. Außerdem fanden jeden Nachmittag Schularbeiten und Nachhilfe bei der Tante in ihrem Zimmer statt. Soweit es möglich war, entzog ich mich all dieser lästigen Dinge. Zu jedem Geburtstag kam die ganze Familie zusammen. Hauptsächlich viele, viele Tanten. Es gab nur drei Männer, meinen Opa, den Onkel und meinen kleinen Bruder. Es wurde jeweils viel gelacht, getratscht und gegeneinander gestichelt. Die fehlenden Männer der Familie waren entweder im Krieg geblieben, oder in Gefangenschaft geraten. Von meinem Vater hatten wir nie etwas gehört. Meine Mutter suchte durch das Rote Kreuz ständig nach ihm, doch ohne Resultat. Die Behörden hatten ihr geraten, meinen Vater für tot zu erklären. Dann hätte sie Rente und für uns Waisenrente haben können. Das hat sie aber kategorisch abgelehnt. Erst nach sechs Jahren, 1951, kam die Nachricht, dass mein Vater lebt. Aber es sollte noch mal fünf Jahre dauern, bis ihn die Russen freiließen. 

Nachdem ich mühsam lesen und schreiben gelernt hatte, entwickelte ich nun einen unbändigen Lesehunger. Mein Großvater hatte mir die „Deutschen Heldensagen“ und „Die Sagen des klassischen Altertums“ geschenkt. Beide Exemplare uralt, sehr umfangreich und illustriert. Ich hüte sie bis heute und habe sie damals mehrere Male gelesen. Später hatte ich einen Spielkameraden, der mir gegen einen Obolus, z. B. Murmeln, Radiergummi, Bleistift oder Geld, nach und nach sämtliche Karl May Bücher lieh. Wir sehen uns bis heute noch gelegentlich bei gemeinsamen Bekannten. Ich habe ihm niemals verziehen, dass er mich damals so abgezockt hat.

In der Schule wurde es allmählich interessanter für mich. Ich kam in das Hildegard-Wegscheider-Gymnasium in der Lassen Straße. Neue Fächer kamen hinzu. Das Leben wurde ausgesprochen anstrengend, zum Englischen kamen Französisch und Latein. Zusätzliche die „Schreckens Fächer“ Physik, Chemie und Mathematik. Da langte es mir, nur von den Schlechten die Beste zu sein. Mein Ehrgeiz hielt sich in Grenzen. Lieber malte und baute ich Kulissen für Schultheateraufführungen, die zum Teil mit den Jungs des Walter-Rathenau-Gymnasiums zusammen organisiert wurden.

Meine Karriere als Theaterschauspielerin beendete ich nach einer Saison. Ich hatte tödliches Lampenfieber. Lieber wirkte ich hinter den Kulissen. Dort fungierte auch mein Nachbar Justus, den ich sehr viel später heiraten sollte, als Techniker und Beleuchter hinter der Bühne. Außerhalb der Theatersaison war der Treffpunkt der interessierten Jungs und Mädchen in der Mitte zwischen den beiden Schulen an einer Sphinx auf der Brücke in der Bismarckallee. 

Meine Kindheit verabschiedete sich langsam. Ich sah mit Spannung einem aufregenden Leben als störrischer Teenager entgegen. 

Rückblickend empfinde ich meine Kindheit nicht als schrecklich, eher als ein großes Abenteuer mit ziemlich vielen Entbehrungen, aber auch mit großer Solidarität, Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit. Natürlich sind gewisse Ängste und Macken zurückgeblieben. Und eine Lebenswahrnehmung, oder ein Gefühl der Unsicherheit, dass nichts Bestand hat, sich morgen alles ändern kann.

 

Die Autorin

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